»EIN UNRUHIGES HERZ VERFINSTERT
OFT DEN HELLSTEN VERSTAND«
Eine Vor/Lesung aus der Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich ...
von Moritz August von Thümmel

1791-1805 erschien in zehn Bänden Moritz August von Thümmels Roman Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich 1785 - 1786. Zum letzten Mal wurde er 1853/54 innerhalb der Sämmtlichen Werke (Leipzig, Göschen´sche Verlagshandlung) veröffentlicht. Es ist an der Zeit, dieses Buch neu zu lesen. Fangen wir mit einer Auswahl an. Es wurden Passagen ausgesucht und durch kurze Inhaltszusammenfassungen miteinander verbunden, so daß eine Vorstellung vom Gesamtwerk möglich sein kann. Andere würden andere Stellen suchen und finden. Im Zentrum der Auswahl steht die grandiose und phantastische „Strumpfband-Episode" — ein sich sich (ab)geschlossenes Kunstwerk. Es ist (auch heute noch) nicht besonders schwierig, antiquarisch eine Thümmel-Gesamtausgabe zu erwerben. Er hatte in seiner Zeit Erfolg, so daß sich seine Bücher bis in unsere Zeit hinübergerettet haben. Es wäre schön (und das ist die Absicht dieser Veröffentlichung), wenn die Reise in einer vollständigen Fassung auf dem heutigen Buchmarkt einen Platz finden könnte.  (FJK)

   Ich kann mir nicht helfen - so demüthigend auch das Geständniß für den Stolz des innern Menschen seyn mag - so schwer es auch über die Lippen eines ausgemachten Philosophen gehen würde; dennoch sage ich es zur Ehre der Wahrheit und unverholen, daß ich nur dem Rütteln und Schütteln einer armseligen Postchaise den wieder erlangten Gebrauch meiner Seelenkräfte verdanke. Mit Hülfe eines Meilenmessers könnte ich genau auf der Postcharte jeden Punkt angeben, auf dem ich diese und jene gute Eigenschaft wieder fand, die mir, Gott weiß wie! nach und nach von der Hand gekommen war. Ich mußte sie freilich ziemlich einzeln zusammen lesen, und es verging manche liebe Stunde, ehe ich meinen Verlust ersetzt sah - mußte mich drehen und wenden und manche Lage versuchen, bevor ich in meine natürliche kam.
   Ich verschloß meinen Wagen, wie die Celle eines Carthäusers, als ich mich aus dem für mich so geräuschvollen Berlin rettete, und glaubte der Welt einen rechten Possen zu thun, daß ich meine Stor's herabließ. Aber die Welt ging ihren Gang, und mir hingegen trat, mit jeder Station bis Leipzig, das Unbehagliche meines abgezogenen Lebens immer näher an's Herz. Johann besorgte von außen alles was nöthig war, seinen elenden Herrn weiter zu bringen; und er wäre mit diesem unruhigen Geschäfte mir auch nur lästig an meiner Seite gewesen, so ein ehrlicher Kerl er auch seyn mag. Schon die heitere Miene, mit der er bald die Wolken, bald die Schafe, die uns begegneten, anlächelte, schickte sich gar nicht in die Nachbarschaft meines Ernstes. Ich mußte einen Begleiter haben, der mir ähnelte, und ich hatte das Glück, im blauen Engel  einen auszufinden, der meinen Eigensinn, meinen Haß gegen Scherze und Liebkosungen, mein Stillschweigen, meine gerunzelte Stirne, ja sogar mein Asthma vollkommen in sich vereinigte. - Es wird Dir gewiß lieb zu hören seyn, daß dießmal von keinem menschlichen Geschöpfe, sondern nur von einem Mopse die Rede ist, den ich für einige Thaler erhandelte. Das arme Thier ward in meine Reise verflochten, ohne zu wissen, wie ihm geschah, und fand sich geschwind genug darein, denn wir hätten zusammen um die Welt reisen können, ohne daß einer dem andern in stärkerm Grade lästig geworden wäre, als es gerade zur Uebung unserer gemeinschaftlichen Laune nöthig war. Jetzt ist mir freilich der gute Mops nicht mehr so unentbehrlich, denn ein frohes, menschliches Auge weiß auch an untergeordneten Geschöpfen ihre hellen Farben und den Instinkt ihrer Freude zu schätzen, und gibt einem muthwilligen Windspiele den Vorzug vor einem schnarchenden Mopse. Für meine Erinnerung indeß behält er seinen Werth. Wie gerne lächle ich manchmal in dem Gefühl meines Wohlbehagens dieß treue Ebenbild meines vorigen Mißmuths an, und schlage oft, wenn ich bei seinem Lager vorüber gehe, dankbar meine Augen zum Himmel auf. Ursache genug, daß ich ihn beibehalte, auch um Gesellschafter meiner Rückreise zu seyn.

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   Wer ist denn der blühende Mann, der da vor mir in das Zimmer tritt? fragte ich in Frankfurt den Wirth zum Römischen Kaiser,  indem ich von seinen Leuten so behutsam, wie zerbrechliche Waare, ausgeladen ward, fragte mit so matter, hohlklingender Stimme, daß er für dringender hielt, meinem Tone als meiner Neugier zu antworten. Ich will dafür sorgen, daß Sie neben ihm zu sitzen kommen, sagte er, es ist einer unserer geschicktesten Aerzte.
   In diesem kleine Zufalle lag es, daß ich dem Berufe seit acht Tagen zum ersten Male Gehör gab, in Gesellschaft von Menschen, menschlich zu essen, denn bis jetzt war das Pulver des Grafen von Pilo, dieses herrliche Gegenmittel wider die Wechselfieber und die böse Lust, noch immer mein Frühstück geblieben. Mit dem Schlage der zehnten Morgenstunde, und hätte sie mich an dem steilsten Abhange eines Berges getroffen, ließ ich halten, um mit der Jungfer Steffens dem Steine, um eilf Uhr mit dem Freiherrn von Hirschen der Schwindsucht, und zu Mittage mit dem berühmten d'Ailhaud der Gicht entgegen zu arbeiten, damit ich am Abend jeden Tages der Kraftbrühe des D. Kämpf desto würdiger seyn möchte.
   So regelmäßig hatte ich gelebt, um meine leibliche Gestalt, die sich schon zu Berlin durch ihr Ansehn überall Platz machte, unverändert nach Frankfurt zu bringen. Den Gästen, sobald ich in den Speisesaal trat, blieb der Bissen im Munde stecken. Sie rückten erschrocken zusammen, und ließen mir und dem Arzte, an den ich mich anklammerte, eine ganze Seite des Tisches frei. Ich hingegen, da ich um mich her blickte, las in jedem Auge, welchen lächerlichen Contrast die Blässe meines Gesichts mit dem Schimmer des seinigen darstellen mußte. Ich weiß nicht warum, aber länger konnte ich nun seine auszeichnende Röthe nicht ohne Verdruß ansehen, und ich war drauf und dran, in meinen alten Irrthum zu verfallen, sie auch an Ihm für die Leibfarbe der Ignoranz zu halten. Aber ein gewisses Vergnügen, das ich an der ganzen Gesellschaft bemerkte, unter seinen Augen zu essen, sprach so laut zu seinem Vortheile, und hielt mich so lange von jedem gewagten Urtheile über ihn zurück, bis er, ach, nur zu geschwinde, sein eigner Verräther ward. Gewiß bin ich oft unwissenderen Aerzten, als Er war, in die Hände gefallen, aber einen größern Egoisten der Unmäßigkeit traf ich nie in ihrer Zunft. Alle Sinne dieses Schmeckers waren in das thierische Geschäft seiner Sättigung verwickelt. Seine Löwenaugen flogen von einer Schüssel zur andern, und störten von ferne schon nach der Beute, die er mit geübten Händen den weniger aufmerksamen Gästen abzugewinnen wußte. Seine Kunst, so groß sie auch seyn mochte, schien er mit seinem Hut an den Nagel gehängt zu haben, die Medicin nur für eine Dienerin der Kochkunst, und den Ruf eines Fabius Gurges höher zu halten, als den eines Galen. Zur Mittagsstunde ist so ein Arzt das unbrauchbarste Geschöpf unter der Sonne. Auch mag es ihm Gott vergeben, was er an mir gethan hat. Ich saß kleinmüthig neben ihm, und lauerte lange umsonst auf ein freiwilliges Almosen seiner Aufmerksamkeit, das ich mir endlich bei dem ersten müßigen Augenblicke seiner Zunge zu erbetteln beschloß.
   Nach langem Harren erschien dieser günstige Zeitpunkt. Die erste Tracht Speisen ward abgehoben; und sogleich setze ich mich, während der kurzen Pause, da die zweite in Ordnung gestellt wurde, in Positur, den bessern Theil des Schlemmers in mein Interesse zu ziehen. Vergebliche Hoffnung! denn wie ich eben den Mund öffnete, um ihm die Menge meiner Uebel zur Schau zu legen, trug man als Hauptschüssel eine fette Gans auf, die der ganzen Gesellschaft Bewunderung und die entfernstesten Gedanken des Doktors auf sich zog. Die Zerlegung des Vogels gab mir jetzt nur noch einen kurzen Zeitraum frei. - Ich faßte Herz, ergriff freundschaftlich die Hand meines Nachbars, und glaubte durch die feine Wendung, die ich meinem Vortrage gab, mich seiner wenigstens so lange zu versichern, bis der Vorschneider fertig seyn würde. "Der Zufall," hob ich mit ungewisser Stimme an, "hat einen gefährlichen Kranken an die Seite eines berühmten Arztes gebracht - - Vermuthlich kennen Sie, mein Herr, des Madai Traktat de morbis occultis? - dort ist meine Krankheit auf der siebenten Seite nach dem Leben geschildert - Aber warum sehen Sie mich so bedeutend an? Ich beschwöre Sie, theuerster Mann, gestehen Sie es nur aufrichtig, daß Sie ganz an meiner Genesung verzweifeln? - Sollte denn aber nicht durch eine noch strengere Diät, als ich schon halte, die materia pec --- "
   Aber Himmel, welches unerwartetes Schrecken unterbrach hier meine herzbrechende Periode, und vergällte mir das Wort im Munde! Der grausame Arzt hatte mir bis dahin mit sichtbarem Ernste zugehört. Jetzt schob er, wie von Abscheu gegen meine Krankheit ergriffen, seinen Stuhl plötzlich zurück, wünschte mir, lakonisch wie der Unverstand, eine glückliche Reise, langte seinen Hut und - - solltest Du es glauben? - ließ die anlockende Gans im Stiche, indem er, wie der Geist Hamlets, verschwand. Welch ein betäubender Schlag! Ich glaubte von beiden Seiten meines nun ganz isolirten Stuhls in einen Abgrund zu blicken, und der schnelle Aufbruch meines Arztes und sein ominöses: "Reisen Sie glücklich!" statt der entscheidenden Antwort, um die ich ihn anflehte, tönte mir nun in den Ohren, wie eine Abfertigung in die andere Welt.

    Wie, wenn der Wetterstrahl in Girards Beichtstuhl bricht,
    Der Heuchler aufgeschreckt, aus Selbsterhaltungspflicht
    Schnell aus dem Dunstkreis sich der Busenfreundin stürzet,
    Und Sie? - Vermißt nun Sie das männliche Gewicht
    Des Segenspendenden, der ihre Seele würzet,
    Staunt - weint - schlägt an die Brust, und ihr Entsetzen spricht
    Mit hohlem Ton: Ich bin verkürzet! -
    So fuhr auch mir, - Vergleichung, Freund, giebt Licht, -
    Des stummen Doktors Eil' und seines Gaums Verzicht
    Auf eine fette Gans, elektrisch durch die Nerven.
    Ich sah im Geiste schon, (denn klüger wußt' ich nicht
    Das Wunder abzuthun) zu meinem Blutgericht
    Ihn sein Skalpier und seine Feder schärfen,
    Um, nach vollbrachter That, mit ernstem Amtsgesicht
    mir seinen Sektionsbericht
    Zur Antwort hinten nach zu werfen.
    Aus diesem Schreckenstraum ein wenig aufgerafft,
    Sucht' ich nach mir, und fand, - an Leib' und Seel' erschlafft,
    Mein Selbst weit aus dem Kreis der Fröhlichen verschoben,
    Als wäre zwischen mir und jeder Lebenskraft
    Schon alle Freundschaft aufgehoben.

   Diese traurige Gestalt meiner selbst, die ich immer in einem Spiegel vor mir sah, jagte mich vom Tische auf, und sträubte mir das Haar noch, als ich athemlos mein Zimmer erreicht hatte. Zum Ueberfluß setzte die lang entwohnte Hitze eines beizenden Rheinweins, von dem ich leider! ein Glas getrunken hatte, meine Einbildungskraft in Feuer und Flammen. In jedem Pulsschlage glaubte ich die Tritte des herannahenden Todes zu hören, glaubte zu fühlen, wie sich schon ein Faden um den andern aus dem künstlichen Gebinde ablösete, an den hienieden meine Marionettenrolle geknüpft ist - verfiel darüber in den metaphysischen Unsinn - den unbrauchbarsten von allen - meinem eigenen Selbst bis auf die feine Endspitze nachzuschleichen, wo es sich für seine zwo Welten theilen würde - als etwas glücklicher Weise dazwischen trat, das mich nöthigte, mein großes Experiment zu verschieben - ein Dunst, der mehr werth ist, als die hellste Betrachtung, und in dessen Nebel ich immer Weisheit, Lebenskraft und Menschenwürde wieder fand, die ich oft in den aufgeklärtesten Versammlungen verlor: aber gütiger hatte er seit den Jahren meiner Kindheit nicht auf meinen Augenliedern geruht als diesmal, und der Gedanke: "Habe Muth zu leben, eile in die Arme der Natur zurück." herrschte durch mein ganzes Wesen, als ich mit der Morgenröthe erwachte. - (I,5-12) 2)

...und er macht sich mit Johann und seinem Mops auf den Weg... von Berlin über Frankfurt, Bruchsal und Karlsruhe gelangt er nach Kehl. Dort überquert er den Rhein und gelangt in das Land, von dem er sich eine Linderung seiner Leiden erhofft.
ER - das ist Wilhelm, der in seinen tagebuchartigen Briefen seinem Freund Eduard über seine Frankreichreise berichtet. Seine Krankheit ist eine zuweilen unerträgliche Hypochondrie, die wir in der Beschreibung eines Reisenden, der mit unserem Freund an einem Tisch sitzt, beschrieben finden:

Wie kann der (...) Urheber eines markigen und in sich glücklichen Menschen, eines Pitt, eines Washington, eines Haller, eines Friederich werden, dessen Herz keine von den Neigungen nährt, die den Saft des Lebens, den jeder seiner Pulsschläge ausströmt, läutern und versüßen? Ein so murrsinniger Mann (...) ist in der moralischen Welt, was ein Gichtbrüchiger inder physischen ist, für das Wohl des Ganzen untauglich zur Fortpflanzung. Der eine betrügt die Nachwelt mit lahmen Körpern, der andere mit Krüppeln an Geist. Glaube es meiner Erfahrung, Freund, dieser Schnupfen der Seele, den man viel zu gelinde üble Laune nennt, verbreitet sich über alles, was der Angesteckte berührt, begleitet ihn zu seinen Geschäften, hinkt neben ihm auf seinen Spaziergängen, und verlöscht die lauterste Flamme der geheiligten Liebe in seinen ehelichen Umarmungen. Die es gut mit der Menschheit meinen, sollten diese schleichende, jetzt so sehr um sich greifende Krankheit mit aller Macht der Moral und Erziehung aus der Welt zu bannen suchen, wie die Aerzte die Blattern, denn es gibt keine, die den Kranken unglücklicher macht, und der allgemeinen Freude nachtheiliger und fortwirkender auf die Nachkommenschaft wäre, als diese. (I,30)

Hier in Straßburg begegnet er neben diversen Quacksalbern, die ihre Weisheit aus dem Unterleibe eines hellsehenden, schlafenden Mädchens schöpfen (I,40), auch seinem in der Gestalt eines weissagenden Arztes auftretenden Freund Jerom, der ihm folgenden Rat gibt:

Höre meinen Rath (...) lieber Wilhelm - und es kann sich noch ändern. Du gehst zu deinen Glücke in das Land des Leichtsinns: nutze diesen Umstand zu deiner geistigen und körperlichen Genesung, wie ihn andere zu ihrem Verderben mißbrauchen. Suche den Scherz und das Lachen auf, wo du es antriffst. Die Wahl unter ihrer Sippschaft lasse ich ruhig dir frei. Meide alle und jede, die man dir als große Männer ankündigt - alle Schriftsteller - die Wunderdoktoren aller Fakultäten - und fliehe besonders jene Magazine der Vielwisserei, die Bibliotheken, die jetzt fast alle Städte verengen, die Miethen theurer und die besten Säle unbrauchbar machen - die, wenn die Wuth, sie zu sammeln, noch tausend Jahre so fortgeht, endlich die weite Welt einnehmen und das Menschengeschlecht daraus verdrängen werden, ohne es um einen Grad glücklicher zu machen. (...) Suche nirgends Erbauung, als in den Wäldern unter dem Gesange der Vögel und an dem rieselnden Bache! So lange das Blöcken der Lämmer dir nicht näher ans Herz tritt, als das Blöcken der Menschen, sage noch nicht, daß du gesund bist, und werde noch wachsamer über dich selbst! Ueberlaß dich auf einige Zeit ganz jener glücklichen Art von Müßiggange, die mehr Thätigkeit in sich enthält, als manches Aemtchen im Staate. (...) Hüte dich, so viel du auch Kohlenstaub von deinem Heerde zutragen könntest, an dem großen Processe der Aufklärung mitzuarbeiten; und hüte dich vor dem Laster der übeln Laune, damit du, wenn deine Hütte brennt, nicht mit Ferngläsern suchest, wo der Rauch herkomme. - Deine Weisheit lehre dich, mit den Thorheiten und Schwachheiten der Menschen zu spielen, und ihnen dieselbe Freiheit bei den deinigen zu lassen, ohne Mißtrauen, ohne Strenge. - Denke selbst, wie rein die Tugenden desjenigen wohl seyn mögen, der andern keine zutraut, da wir doch nur mit dem Gefühl unseres eigenen Herzens die Bewegungen aller andern verstehen können? Weise auch nicht gleich jede schalkhafte Leidenschaft, die bei dir anklopft, wie einen Bettler von dir! Der herrliche Wein, der jenes Land bekränzt, sey deine Arznei, das flammende Gesicht des braunen Mädchens dein Arzt, und das Spielwerk der Liebe deine Philosophie! (I,85-88)

Von Straßburg geht es nach Paris. Der Aufenthalt hier ist nur kurz - die lärmende Geschäftigkeit der Stadt geht unserem Reisenden gewaltig aufs Gemüt. Den Nationalstolz der Franzosen empfindet er als äußerst übertrieben und unpassend.
Über Gott und die Welt räsonnierend flieht er gen Süden und landet in Nîmes, wo er sich länger aufzuhalten gedenkt.
Wir erleben ihn hier in der Gesellschaft langweiliger, gezierter Menschen. Er flüchtet in die Natur, ersteigt einen Berg und bekommt mächtige Gefühle. In der Schilderung, die er seinem Freund Eduard gibt, erkennen wir überdeutlich den empfindsamen Schwärmer:

 Ein unförmliches, uraltes, hohes, zugespitztes Gewölbe auf der Mitte dieses Gebirges, an welchem die Untersuchungen des herzhaftesten Antiquars scheitern, dominirt hier wie eine Bischofsmütze, über das unter ihm ausgebreitete Land. Das gemeine Volk nennt dieses sonderbare Gebäude "den Leuchtthurm", vermuthlich um dem Kinde einen Namen zu geben, da der Augenschein lehrt, daß ihm dieses Beiwort so wenig zukommt, als der Magistertitel einer Schildkröte. Die Römer fanden es schon zu ihrer Zeit in der nehmlichen Gestalt. Mir scheint es von Dummköpfen für die Ewigkeit gebaut zu seyn, die hier zum erstenmale ihre Absicht erreichten. Nach der leblosen imposanten Ruhe, die diesen Thurm umgiebt, würde ich zwar noch lieber glauben, daß er von Tauben und Stummen dem Gotte des Stillschweigens zu Ehren errichtet sey, wenn es mir nicht zu wehe thäte, einem solchen Gotte einen so barbarischen Tempel anzuweisen.
 Die Andacht findet indeß überall das höhere Wesen, von dem sie voll ist, und so ging es auch mir. - Ich fühlte mich gestimmt, dem Gotte, dessen Gegenwart ich ahnte, auf allen Fall mein Opfer zu bringen. Ernst und schaudernd blickte ich um mich her; die Knie zitterten mir; gemach sank ich auf ein bemoostes Felsenstück, aus dessen Ritzen hier und da eine Lotosblume hervor sproßte, legte den Finger auf den Mund, und ein stilles Gebet strömte in frommem Entzücken aus dem gerührten Herzen:

    "Du Wesen, das zu mir beredter
    Als Phöbus und die Musen spricht,
    Sei Du, bescheidenster der Götter,
    So oft mich Deiner Ehre Spötter
    Umschnattern, meine Zuversicht!

    Steh' im Gedräng' der Gallatage
    Mit Deiner Gegenwart mir bei,
    Daß ich nur heimlich Dir es klage
    Wie unbequem mir jede Lage
    Am Hofe eines Fürsten sei.

    Errette mich, wenn ich der Thoren
    Verdecktes Spiel, wenn ich zu nah
    Des Midas königliche Ohren,
    Wenn ich Nicaisens Kopf beschoren,
    Und Meßmern in die Fenster sah!

    Verhülle unter einem Kranze
    Von Lotus mein empörtes Haar,
    Wenn mich aus ihrem Mittagsglanze
    Die Göttin schrecket, die im Tanze
    Des Abends meine Phryne war!

    Beschütze mich vor Fürstenrache,
    Den Martern eines Struensee,
    Wenn ich nach mancher Ehrenwache
    In meines Sohnes Vorgemache
    Unkenntlich wie Ulysses steh!

    Und führe mich, den Mund verschlossen,
    Durch Autor= und Sophistenschlamm;
    Versüße meinen Zeitgenossen
    Die Bitterkeit von meinen Glossen,
    Und werde Du mein Epigramm!"

 Hoch pochte mir das Herz während dieser feierlichen Mette. Ich blickte wild in die Ferne, und stieg vom Rande des blauen Horizont's mit einem forschenden Blicke in die Zukunft, hörte den Strom der Zeit rauschen, sah mich von seinen brausenden Wellen ergriffen, und als ein verwelktes Blatt fortschwemmen. - Ich erschrak, sprang mit sträubendem Haare von meinem harten Sitze auf, und verließ mit eilenden Füßen diesen Felsen des Harpokrates. Unachtsam auf den Weg, den ich nahm, kletterte von einer Steinstufe zur andern herab, und befand mich, ehe ich daran dachte, auf einer Wiese, die der Natur noch nicht abgewonnen, und der Grund eines Kessels von Bergen war.
 Wie ich mich der Erde näher fühlte, verschwand meine Schwärmerei, aber mein Bewußtseyn kehrte desto schreckender zurück. Unwillkürlich hatte ich mich in dem Kreise des Gebirges gedreht, das mich umschloß, und die Spur verloren, die mich hierher führte. In der Höhe, wohin mein starres Auge blickte, umzog mich nur das wolkenlose Gewand des Himmels, und keck grünendes Moos polsterte den Zirkel, in den sich vielleicht seit seiner Erschaffung kein menschlicher Fuß verirrt hatte, und in welchem ich jetzt, wie die Bildsäule des Erstaunens, ohne Bewegung stand. Die Sonne und alle himmlischen Zeichen waren für mich erloschen. - Umsonst spannte ich mein Ohr nach einem Laute - nur nach einem einzigen Laute der Schöpfung - und hörte nichts als das Picken meiner Uhr.
 Unnennbare Angst, die mich nun ergriff, stärkte endlich meine wankenden Füße zu dem Entschlusse, auf gut Glück den ersten besten Radium dieses Gebirges zu erklimmen. - Mühselig war mein Weg; oft glaubte ich vor Erschlaffung wieder zurück zu stürzen: - aber - wie belohnend war auch endlich der Blick, den ich nun nach dem errungenen Ziele in den Abgrund that! An seinem Rande erholte ich mich wieder von meiner Müdigkeit und Angst, und bald zeigte mir menschliches Gefühl wiederkommender Eitelkeit, daß ich gerettet sey. Ich versuchte zuerst meine erneuerten Kräfte an einem ungeheuern Sandsteine, den ich kaum mit der größten Anstrengung die wenigen Zolle fortbewegen konnte, die er vom Abhange des Felsen entfernt lag. "Du sollst," sagte ich, "das Monument meines Hierseyns werden." Und nach der Arbeit einer Stunde hatte ich das Vergnügen, ihn rollen, in seinem Falle die Felsenspitze abschlagen, und das tiefe Moos, in das er sich einsenkte, um ihn herum auffahren zu sehen. - Hier wirst du vielleicht noch liegen, sagte mein Stolz, wenn die folgenden Jahrtausende alle gleichzeitigen Monumente größerer Thaten und Verirrungen von der Oberfläche der Erde weggespült haben! - und mit gutmüthigem Lächeln verließ ich diesen merkwürdigen Ort. (I,129-133)

In der Nähe von Nîmes findet Wilhelm das, wonach er gesucht hat: die natürliche Natur und die junge, unverdorbene, reine, dreizehnjährige Margot. Doch bevor er die Bekanntschaft mit der Kleinen vertiefen darf, widerfährt ihm ein harter Schicksalsschlag:

 Ich habe einen Verlust erlitten, der mir nahe geht. Mein guter Mops ist gestorben, und liegt nun unter dem großen Olivenbaume meines Wirths begraben. Wenn dem klügern Menschen nicht ausschließungsweise von jeder andern Kreatur die Ehre des Selbstmordes vorbehalten wäre, so möchte ich beinahe glauben, daß auch mein Mops, aus Schwermuth, freiwillig die Welt verlassen habe. Es schien ihm unausstehlich zu seyn, seinen Herrn vergnügt zu sehen; und seitdem Margot hier ist, die mir eine Runzel um die andere aus dem Gesichte wegwischt, bekam er jede Stunde eine mehr, und seit gestern Abend, wo wir - ich und sie - freilich sehr munter zusammen waren, schien sein Verdruß auf's höchste gestiegen zu seyn. - Er kroch in einen Winkel, und heute früh fand man ihn todt.
 Ich gestehe, daß ich ihn seit einiger Zeit vernachlässigt habe, und es thut mir wirklich leid; denn es war ein gutes Thier, das mich liebte, und dem ich, in jenen hypochondrischen Stunden meiner Reise manche nützliche Betrachtung verdankte.

    Dieß große Warnungsbild, das ich mit ihm verloren,
    So weit ich blicken kann, ersetzt ein anders nicht.
    Belehrender ward nie ein Sonderling geboren,
      Und keiner trug bei kürzern Ohren
        Ein philosophischer Gesicht.

    Zwar sah ich manche Stirn von Königsberg bis Leiden
    Mit diesem mystischen gelehrten Ueberzug:
    Doch sah ich keine je, die Runzeln so bescheiden
      Von allen Weisen zu beneiden,
        Als meines Hundes Stirne trug.

    Der schönsten Stadt entführt, wo der Beruf zu schlafen,
    Durch Lindenluft verstärkt, das Bürgerrecht ihm gab,
    Ward er, wie Epiktet, vom ungestalten Sklaven
      Mein Freund - Er war's, dem Polygraphen
        Der Schweiz zum Trotz - bis an sein Grab.

    Er warf den hohen Ernst der kritischen Geberde
    Nie auf ein Mitgeschöpf - nie außer sich herum.
    Der Schnarcher suchte nie, so weit ihn Gottes Erde
      Auch trug, daß er bewundert werde,
        Ein größer Auditorium.

    Nur still erbaut' er mich. Von seinem gelben Felle
    Blickt' ich gestärkter auf in die beblümte Flur:
    Mein krankes Auge stieg von seiner Lagerstelle
      Gemach vom Dunkeln in das Helle,
        Bis zu dem Lichtquell der Natur.

    Wenn er sich schüttelte, las ich in seinen Blicken
    Den herrlichen Beweis vortrefflich kommentirt,
    Den einst, vom Uebergang des Schmerzes zum Entzücken
      Aus gleicher Nothdurft sich zu jücken,
        Der weise Sokrates geführt.

    Kein unbequemer Freund, kein Trunkenbold, kein Fresser,
    In richtiger Mensur nicht stolz, nicht zu gemein,
    Schlief er sein Leben durch, und wahrlich desto besser!
      Er schläferte, wie ein Professor,
        Auch seinen klügern Nachbar ein.

    Lebt wohl ein Menschenfreund, der sich nicht seiner Hunde,
    nicht ihrer Tugenden und ihrer Liebe freut?
    Sucht nicht selbst Friederich, kraft seiner Menschenkunde,
      Das Spielwerk seiner Ruhestunde
        In seines Hunds Geselligkeit?

    Ulyß, von seinem Hof verkannt und ausgeschlossen,
    Bewährt der Treue Ruhm, den sich sein Hund erwarb:
    Alt, blind, kroch er zu dem, nach Jahren die verflossen,
      Von dem er Wohlthat einst genossen,
        Zog seinen Dunst noch ein - und starb. -

    Wie hast du, guter Mops, nicht meiner Stirne Falten,
    Sah ich dem Grillenspiel der deinen zu, gegleicht!
    Gewarnter nur durch dich, frühzeitig zu veralten,
      Sey immer dir mein Dank erhalten!
       Auch dir sey Gottes Erde leicht! -

(I,159-162)


Nach einigen Schäkereien mit Margot stößt ihm ein zweites Mißgeschick zu: Er rennt gegen einen Feigenbaum und holt sich eine dicke Beule - und gibt dieses banale Ereignis als eine Begegnung der dritten Art aus: Gott Amor persönlich habe ihn gezeichnet. Das kleine Ding ist entsetzt und verschafft ihm Linderung:

 Schon hatte ich mein summendes Haupt in das Kissen gehüllt, und sah den friedlichen Schlaf sich nähern - als das Schicksal, das mich heute zu seinem Ball ausersehen zu haben schien, mir noch eine eben so unerwartete als harte Prüfungsstunde in den Weg warf. Das mitleidige Kind hatte, mit Hülfe Johanns, dürre Kräuter von dem Oberboden geholt, die sie zur Bähung meiner Wunde für dienlich hielt, und die ihr noch beifielen, wie sie eben in das Bette steigen wollte. Das hielt sie nicht ab, in bloßen Füßen und ohne Licht darnach zu gehen. - Johann hatte Feuer anfachen müssen, um den Wein warm zu machen, in welchem die Kräuter gebeizt wurden, und auf Einmal trat das gute Mädchen leise vor mein Bett, schlug die rauchende Masse in ihr Halstuch, das sie abthat, um es mir um die Stirne zu binden. -
 "Kind," sagte ich, "was beginnst du? - Du machst dir eine unnöthige Mühe."
 "Das dächte ich doch nicht," antwortete sie spöttelnd: "Oder denken Sie etwa, daß Ihnen Ihre blaue Stirne gut steht?" Zugleich bog sie sich über mein Bette, legte mir das Tuch an, und indem sie es zusammenknüpfen wollte, geschah es, daß durch die Richtung, in die ich jetzt, des Knotens wegen, nach ihr hingezogen ward, mein Gesicht auf den schönsten jugendlichsten Busen zu ruhen kam, der wohl je unter den Küssen eines Mannes gezittert hat.
 Welche geheime magische Verkettung aller Dinge! So erzeugte meine Morgenschwärmerei für den ruhigen Abend eine Wirklichkeit, deren Keim ich nimmermehr in dem unsanften Augenblicke würde geahnet haben, der mir heute die Stirne zerstieß. -
 "O Margot," flüsterte ich ihr zu, indem ich nicht widerstehen konnte, meine Arme um den schlanken Wuchs dieses lieblichen Mädchens zu schlagen. - "Du - o um wie viel rührender könntest du meine Schmerzen zertheilen - verjagen - in Entzücken verwandeln!"
 "So sagen Sie doch wodurch?" flüsterte sie mir entgegen, ohne mir nur einen Grad der Wärme zu entziehen, die mir meine glückliche Lage verschaffte.
 "O du" - fuhr ich nach einer, der höchsten Empfindung gegönnten Pause, in schmelzender Zärtlichkeit fort: "wie soll ich dich nennen, Kind der unverfälschten Natur? - O wüßtest du, meine Margot, das ganze Geheimniß dieser Wunde, die schönste Beute, die ich jemals dem Amor abjagte! - O möchtest du jetzt den Kampf meines Morgens belohnen! Ja ich sehe schon meine Athletenkrone mit den blühendsten Sprößlingen durchflochten, die je das Mitleid der Liebe gereicht hat." - Und das leichte, geschmeidige, ätherische Wesen, das während dieser Hymne unter der Federkraft meiner Arme unmerklich immer höher und höher bis über den Schwerpunkt gehoben, halb über mir schwebte - sank jetzt - der Engel sank - tiefer - immer tiefer - endlich zu mir herab - und nun erst erschrak ich vor dem Glanz seiner Würde.
 Es war nicht das Erstemal, Eduard, daß der feine Betrug, den jede symbolische Sprache mit sich führt, mir einen Streich spielte - aber nie vereinigten sich mehr Umstände, die eine Bildersprache gefährlich machen können, als in diesem kritischen Augenblicke. Unschuld und Mitleiden kamen ihrem geheimen Sinne zu Hülfe - Amor war uns kein Ideal aus der Chimärenwelt, so wenig als es die Beule war, die er mir auf die Stirn drückte, als ich seiner Gottheit zu menschlich entgegen strebte. Zu Athen hätte mir dieses sichtbare Kampfmal eben so gewiß Ruhm und Almosen verschafft, als dem heiligen Franz seine Stigmen, die ihn vor andern subalternen Menschen auszeichneten.
 Dieß Gefühl meiner Erhabenheit, und die der Andacht ähnliche Duldung des gefälligen Kindes, wie weit hätten sie uns nicht verschlagen können! Margot, ich bin es gewiß, würde in dem süßen Gedanken meiner Linderung - so unbefangen, wie sie das seidene Halstuch ablegte, um es mir um die Schläfe zu winden - mit derselben verdachtlosen Güte, mit der sie mir den freien Gebrauch ihrer natürlichen Wärme verstattete - auch eben so theilnehmend jene mystischen Sprößlinge, von denen sie mich lallen hörte - in meinen Athletenkranz verflochten haben, ohne es für etwas viel mehr als ein einfaches Hausmittel zu halten. Aber auf Margots Busen selbst unternahm ich es, meine figürlichen Wünsche, meine sublimen Tropen - in gutes derbes Deutsch zu übersetzen; und da brachte ich zu meinem eigenen Erstaunen einen Sinn heraus, vor dem ich erschrak.
 Wie ein Verbrecher, der durch den Glauben beruhigt, daß der Teufel sein Spiel mit ihm getrieben habe, vor die Schranken trat - sie jetzt in Verzweiflung verläßt, nachdem der Richter dem verrätherischen Sprichworte seine symbolische Decke abzog - so zitterte auch ich vor mir selbst, und die Wahrheit gewann.
 "Ich danke dir, Margot," sagte ich mit männlicher Stimme, indem ich meine Umarmung aufhob und ihr wieder auf die Beine half - "für dein Mitleid - deine Umschläge und deine natürliche Wärme. - Sie thut mir wohl, aber die Ruhe wird mir noch besser thun. - Lege dich nun auch schlafen. Morgen will ich dir dein Halstuch wieder geben."
 Indem gleitete der sanfte Strahl des aufgehenden Mondes über mein Bett. - Unter seiner Erleuchtung entfernte sich Margot mit ihrer ganzen herrlichen Unschuld - und ich - mag doch der ganze Hof von Berlin über mich lachen - dünkte mich größer als Scipio - und hatte eine ruhige Nacht. (I,191-194)

Doch was sich im Kopf eines gemütskranken deutschen Intellektuellen abspielt, entspricht in den seltensten Fällen der Realität. Margot liebt Johann, den Diener Wilhelms. Dieser bleibt zurück; Bastian, der Bruder Margots, nimmt seine Stelle ein. Und es geht weiter nach Avignon...
...und dort begegnet ihm Klara (sein Klärchen) ... eine unberührte Heilige? eine verdorbene kleine Pfaffenhure? ... Sehen wir selbst!
Wilhelm zieht bei den verschiedensten Personen Erkundigungen ein. Unter anderem bei dem Wächter am Grabe der Laura - einem Kenner aller Heimlichkeiten Avignons... Nach einem zweiten Besuch bei diesem Manne, gerät er in eine etwas merkwürdige Veranstaltung:

 Ich taumelte, ohne mich um den nächsten Weg nach Hause zu bekümmern, aus einer Gasse in die andere, und mir war beinahe zu Muthe, wie einem jungen Gelehrten, der nicht recht weiß, was er in aller Welt mit den vielen neuen Kenntnissen anfangen soll, die er aus dem Hörsaale mitnimmt. Darüber stieß ich - Ehre sey dem freundlichen Zufalle! auf die launigste Begebenheit, die er je aus seinem weiten Aermel geschüttelt hat. Eine Menge Menschen, die aus einem ansehnlichen Hause theils heraus stürzten, theils ihm zuströmten, erregte meine Aufmerksamkeit. Ich erkundigte mich nach der Ursache dieses Gedränges, und erfuhr, daß hier eine wichtige Versteigerung von Kostbarkeiten gehalten würde. Nun mag ich wohl dann und wann dergleichen öffentlichen Glückspielen beiwohnen; denn, ob ich mich gleich enthalte, mein Inventar auf diesem Wege zu verstärken, seitdem ich einmal in Holland einen englischen Tubus erstand, in welchem, als ich ihn zu Hause genauer untersuchte, das Objectivglas fehlte, so kann es doch immer den Geist angenehm beschäftigen, wenn man mit philosophischen Augen die verschiedenen Hülfsmittel übersieht, die der Besitzer derselben vor seinem physischen oder moralischen Tode gebrauchte, so gelehrt, so artig oder so arm zu werden, als er war. Selbst die kleinen Absichten, die sich manchmal bei denen recht gut errathen lassen, die jetzt dieses oder jenes Stück aus dem Nachlasse des Verstorbenen an sich bringen, gewähren schon einige Unterhaltung. Ich widmete also auch dießmal meiner Neugierde die halbe Stunde, die mir noch bis zum Mittage frei blieb, und stieg, nicht ohne Mühe, die von Menschen angefüllte Treppe hinauf nach dem Auktionszimmer.
 Hätte ich einige Stunden früher eintreffen können, ohne mich um das belehrende Gespräch des Kirchners, das mir über alles gehn mußte, zu bringen, so wäre der Zeitvertreib, den ich hier fand, freilich noch vollkommener gewesen. Jetzt waren ungefähr nur noch ein Dutzend Nummern von einer der seltensten Sammlungen übrig, die wohl jemals versteigert wurden. Der arme Mann, der sie mit Aufopferung seines Vermögens errichtet hatte, und nun sein mühsames, kostbares Gebäude durch unbarmherzige Gläubiger zerstören sah, saß, von Schmerz und Unruhe gefoltert, in einem ausgeleerten Nebenzimmer, und flößte mir gleich beim Eintritt in den Saal das größte Mitleid ein, selbst ehe ich noch einen Blick auf seine Sammlung warf.
 Ich habe zwar oft gesehen, lieber Eduard, daß vernünftige Männer Weib und Kinder und jedes andere Glück des Lebens hintan setzten, um Muscheln, Steine, Bücher, Schmetterlinge oder Gemälde zusammen auf einen Haufen zu bringen - habe ihnen oft, nach Verlauf eines ängstlichen Zeitraums, diese Spielwerke ihres Geistes durch die Gesetze und zu Abfindung ihrer Schulden entreißen, und sie an andere berühmte Kenner, wahrscheinlich zu einem dereinst ähnlichen Schicksale, übergehen sehen - aber noch nie fand ich den Vermögensbestand eines freien Mannes so sonderbar in einem Kabinet koncentrirt, als hier: denn stelle dir vor, Eduard! ich befand mich, ehe ich mir so etwas versah, unter einer vollständigen, Gott weiß nach was für einem System! geordneten Sammlung heiliger Reliquien. Die ersten und wichtigsten Stücke an ganzen Körpern, Gerippen und andern Schätzen aus Katakomben, waren schon an Mann gebracht; doch waren die noch vorräthigen Nummern, die eben ausgerufen werden sollten, dessen ungeachtet noch von sehr schätzbarem Gehalte. Sechs Fläschchen mit Thränen der heiligen Magdalene wurden einzeln abgelassen, und, nach meiner Einsicht, weit unter ihrem Werthe. Ein artiger Mann, der neben mir stand, erklärte mir die Ursache davon, als er meine Verwunderung merkte, und mir ansah, daß ich fremd war. "Wir sitzen hier," sagte er, "an der Quelle dieser Waare. Die Höhle von Beaumont, wo die Heilige zwölf Jahre ihre Sünden beweinte, liegt uns in der Nähe - Aber Sie, als ein Fremder, mein Herr, sollten Sie auf Spekulation für das Ausland kaufen; denn es ist keine Frage, daß sie hundert Procent daran gewinnen könnten." - Ich hätte vielleicht nicht übel gethan, seinem Rathe zu folgen; aber, du weißt es, Eduard, ich habe zu wenig Kaufmannsgeist, und ich ließ, einfältig genug, auch diesen wahrscheinlichen Gewinn einem Juden zu gute gehn, der mit Reliquien handelt.
 Ein Finger des H. Nepomuk, an dessen Aechtheit einige Anwesende zweifeln wollten, und ein Schlußbein des heiligen Franz, hatten eben so wenig Glück, und mußten zusammen ausgeboten werden, ehe sie einen Abnehmer fanden. Ja, sogar Etwas von der keuschen Petronelle, in Weingeist aufgehängt, und recht hübsch conservirt, ging an einen Benediktiner, der es in Kommission erstand, für ein solches Spottgeld weg, daß ein paar artige Geschöpfe, die vermuthlich gleichen Namen führten, die Hände über dem Kopf zusammen schlugen. Dafür fanden sich aber zu der folgenden Nummer desto mehr Liebhaber, und das Kleinod verdiente auch mehr als ein Anderes diese ausgezeichnete Achtung. - Der Ausrufer selbst nahm ehrerbietig den Hut ab, als er das Sammtkästchen, das es verschloß, in die Höhe hielt, und nun unter einer allgemeinen Stille, die nur dann und wann ein Seufzer des Unglücklichen im Nebenzimmer unterbrach, folgendes Heiligthum ankündigte: "Nummer Ein tausend vier hundert und drei und dreißig; das Strumpfband der gebenedeiten Jungfrau und Mutter, das sie an ihrem linken Fuße zu tragen gewohnt war, inclusive eines dazu gehörigen Ablaßbriefes weiland Ihro Päpstlichen Heiligkeit Alexanders des Sechsten, nebst einem Handschreiben gedachten heiligen Vaters an die Gräfin Vanotia."
 Diese Reliquie machte den Eindruck, der zu erwarten stand. Der ganze Haufe der Umstehenden gerieth in Bewegung, und verschiedene Stimmen zugleich erhoben sich mit einem Gebot von zehn, funfzehn und zwanzig Dukaten. Bei dem zweiten Ausrufe stieg es bis auf vier und dreißig. Nach einem kleinen Stillstande trat ein ansehnlicher Mann, mit der gesetzten Miene eines ächten Kenners, in's Mittel, und bot die gerade Summe von vierzig. Der Auktionator fing von vorn, und, um jedermann Zeit zu lassen, sich zu bedenken, mit gedehnter Stimme an: Einmal vierzig - zum zweitenmal vierzig Dukaten - Der Hammer war schon aufgehoben, und ich glaubte den vornehmen Mann schon ganz gewiß in dem Besitze dieser merkwürdigen Reliquie, als, aus der fernsten Ecke des Zimmers unvermuthet eine helle Stimme mit einem halben Dukaten überbot. Der Schall fiel mir sonderbar in das Ohr - ich erhob mich auf meine Fußzehn, und entdeckte - Himmel, wie ward mir! - das reizende Ovalgesichtchen meiner kleinen Nachbarin. War es Freude, oder Betäubung? - war es unwillkürlicher Trieb, ihr nachzulallen? oder sollte es eine Aufforderung seyn, ihre sonorische Stimme noch einmal hören zu lassen? Genug, kaum prallte ihr wohlbekannter Discant an die Saiten meines Herzens, so schlug mein Baß als ein Echo zurück: Einen halben Dukaten. - Der Laut war entwischt - Klärchen schwieg - die ganze Versammlung schwieg - und zu meinem Erstaunen ward mir das Heiligthum für ein und vierzig Dukaten zugeschlagen.
 Wer war betroffener als ich, da mir die Nebenstehenden zu dem erlangten Besitze dieser Kostbarkeit Glück wünschten, und mir Platz am Zahlungstische machten, um den unschuldigen Einklang mit Klärchens Diskante theuer genug zu büßen! Um aller Heiligen und aller Götter willen! was willst du mit diesem Kabinetstücke anfangen? sagte ich heimlich zu mir selbst, als ich die Summe aufzählte; und der Gedanke, daß ich zugleich in ihr das Versprechen der heiligen Concordia ein und vierzigmal zurück gab, vemehrte mein Herzklopfen um ein merkliches. Nie hat wohl der Neid, der, als ich das Sammtkästchen in Empfang nahm, aus den Blicken derer hervor brach, die vor mir darauf geboten hatten, sich gröber versehen, als dießmal. Denn ungeachtet alle Umstehende, bei denen ich mit meinem Heiligthume vorbei ging, mich anlächelten und die Hüte abzogen; so hätte ich doch so unbefangen seyn müssen, als der Esel in der Fabel, der das Bild der Diana trug, wenn ich mir diese Ehrenbezeugung hätte zueignen wollen. Ich kam mir im Gegentheil in diesem Augenblicke überaus albern vor, und hätte nimmermehr vermuthet, daß mich diese mißlichen Umstände doch noch am Ende auf einen so klugen Einfall leiten würden, als ich eben faßte, wie, mit der letzten Nummer, eine Feder aus dem linken Flügel des Würgengels verkauft, die Versteigerung geendigt, die Versammlung im Aufbruch, und jedes nur darauf bedacht war, das erste auf der Gasse zu seyn.
 Wenn ich prahlen wollte, Eduard, so könnte ich es dir als einen Zug meines erfindungsreichen Genies angeben, daß ich in diesem Tumulte den wichtigen Vortheil zu ergreifen wußte, den mir doch vermutlich nur die Gelegenheit und meine Schutzpatronin Concordia darbot. Ich übersah mit einem geschwinden Blicke, was hier für mich zu thun sey, studirte jeden meiner Schritte, den ich vor= oder seitwärts that, und leitete das Volk so geschickt, das es nothwendig, beim Austritte aus dem Saale, mich und Klärchen in einen so verengten Zirkel zusammen brachte, daß sie heilfroh seyn mußte, auf einen hülfreichen Arm zu treffen, um den sie ihre zarte Hand schlingen, und nun hoffen konnte sich, ohne erdrückt zu werden, aus diesem unbändigen Gedränge zu ziehen. Mächtiger Zufall! mein Verstand wirft sich hier nochmals in Staub vor dir nieder, und erkennt dich als seinen Herrn und Wohlthäter.
 Ich wäre der heiligen Atmosphäre, die mich ungab, wäre des Dankes des Engels nicht werth gewesen, wenn ich den einzigen Augenblick, in welchem so viel für die Folge lag, ungenutzt hätte verstreichen lassen. "Meine vortreffliche Nachbarin," flüsterte ich ihr zu, indem wir uns auf dem Vorsaale so lange in ein Fenster zurück zogen, bis sich das Volk würde vertheilt haben, "es war wohl unartig, daß ich Sie überbot; ich hoffe aber, meine gute Absicht soll mich bei Ihnen entschuldigen. Sie können wohl denken, daß, so kostbar auch das Strumpfband seyn mag, das mir das Glück verschaffte, es doch für mich nur dann einen Werth haben kann, wenn ich es wieder an eine Person bringe, die es zu tragen verdient. Ein glückliches Ungefähr hat mich zu Ihrem Nachbar - aber Ihre Verdienste, liebes Klärchen, haben mich auch zu Ihrem eifrigsten Bewunderer gemacht. Ich dachte an Sie, theuerste Freundin, ich erblickte Sie in dem Augenblicke, als Sie auf dieses Kleinod boten, und es war mir unmöglich, nicht nach einer Sache zu ringen, die Ihnen lieb war, um sie Ihnen als einen Beweis meiner Hochachtung auszuliefern. Ich wünschte nur, daß sie dadurch in Ihren Augen noch eingigen Werth mehr bekäme. In dieser Rücksicht" - Hier stockte ich ein wenig, und ihre großen Augen schienen zu fragen, wo das hinaus wollte? - "hätte ich eben so gern mein ganzes Vermögen, als einen armseligen Theil davon aufgewendet. Ich empfahl mich der heiligen Concordia, meiner Beschützerin, und, wie Sie gesehen haben, nicht ohne eine recht auffallende Wirkung: sie verstopfte allen andern Liebhabern den Mund, selbst Ihre frommen Lippen, liebenswürdiges Mädchen, und verschaffte mir die kostbare Reliquie für diesen unbegreiflich geringen Preis." Klärchen erröthete von Sekunde zu Sekunde immer mehr, ohne mich zu unterbrechen. - "Um Ihnen indeß!" fuhr ich traulicher fort, "auch die kleinste Bedenklichkeit zu ersparen, ein Kleinod, für Sie zwar von unendlichem, für mich aber nur relativem Werth, anzunehmen - so erlauben Sie mir, meine schöne Nachbarin, es Ihnen - nicht als Geschenk, sondern gegen einen Tausch anzutragen." Sie erröthete noch mehr, und ihr Stillschweigen gab mir Muth, weiter zu reden - "Wenn ich," fuhr ich fort, "das Vergnügen haben kann, Ihnen morgen früh" ... O wie dankte ich hier dem ehrlichen Kirchner, der mich so genau von den Festen der alten Tante unterrichtet hatte! - "aufzuwarten ... gewiß, theuerstes Klärchen, ein ähnliches Band, das mir alsdann Ihre Güte erlauben wird dagegen einzutauschen, soll meinem Herzen tausendmal werther seyn, als jenes."
 Jetzt erwachte der Stolz der kleinen Heiligen. - "Es ist nicht großmüthig von Ihnen, mein Herr," gurgelte sie mit sanfter Stimme hervor, "daß Sie die Verlegenheit, in die mich dieß Volksgedränge versetzt, noch vermehren. Sie erlauben sich eine Sprache, die mir - um nur wenig zu sagen - ganz fremd ist. Sie müssen wissen, mein Herr, daß ich von meiner Tante abhänge, und keine Besuche anzunehmen habe; und Ihr angebotener Tausch, mein Herr," ...
 "Setzt doch gewiß," fiel ich ihr geschwind ins Wort - "keinen Betrug voraus. Wie könnte er wohl - überlegen Sie es selbst, bestes Klärchen - bei einem Heiligthum, so einzig in seiner Art, Statt finden?"
 Ich schwieg, als ob ich ihr Zeit zur Ueberlegung lassen wollte - Sie brüstete sich ein wenig - und; "Ihre Auslage" fuhr sie jetzt mit einer Stimme fort, die mir nur zu gut verrieth, wie viel ihr an dem Besitze dieses Bandes gelegen seyn mochte - "würde Ihnen meine Tante gewiß gern ersetzen, wenn Sie geneigt seyn sollten" ...
 "Klärchen!" unterbrach ich sie, mit angenommenem Erstaunen - "Mir sagen Sie das? - Doch ich entschuldige Sie - Sie kennen mich noch nicht - aber der Erfolg wird zeigen, wie unrecht Sie thaten, ein Unterpfand des Himmels gegen eine irdische Kleinigkeit, um die Sie ein Freund bittet, auf's Spiel zu setzen. Entweder - meine liebe, bedenkliche Freundin, erlauben Sie mir, daß ich meine gute Absicht ausführe, und Ihnen das Band, daß einst den linken Fuß der hochgelobten Jungfrau umschloß, längstens morgen, an demselben Orte befestige, wo sie es trug; oder ich schwöre, daß, wie ich nach Hause komme, ohne auf die achtzehnhundert Jahre zu achten, die das ehrwürdige Band überlebt hat, ich es dem Feuer meines Kamins übergebe, und Ihnen den Frevel zuschiebe, der dadurch begangen wird." -
 O Eduard! wie erschreckte ich nicht das arme Kind durch meinen Schwur, und durch den entschlossenen Ton, mit dem ich ihn ausstieß! Sie erblaßte, schlug die Augen staunend empor, und drückte ihre gefalteten Hände an die Brust - "Nun denn," rief sie endlich in einer kleinen angenehmen Begeisterung - "bin ich, heiligste Mutter, von dir ausersehen, diesen deinen Nachlaß aus dem Feuer zu retten - so folge ich in Demuth - so geschehe dein Wille! - Eine einzige Bitte nur, mein Herr! bewilligen Sie mir nur noch den Aufschub eines Tages! -
 "Und warum das, meine Beste?" fragte ich.
 "Weil Sie nicht verlangen werden," versetzte sie mit gesenktem Blick, "daß ich Ihren Besuch in Abwesenheit meiner Tante annehme; und diese ist morgen durch ein Fest gebunden und den größten Theil des Tages in der Kirche."
 "Wie, mein liebes frommes Klärchen?" erwiederte ich etwas spöttelnd: "Liegt Ihnen der baldige Besitz dieses Heiligthums so wenig am Herzen, daß Sie ihn über eine armselige Bedenklichkeit aufschieben mögen? Oder glauben Sie weniger dadurch begünstigt zu seyn, wenn es nicht auch andere wissen? Und wollen Sie muthwillig den Samen des Neids in den Busen einer Freundin ausstreuen? Denn ach! Ihre gute Tante müßte nicht so fromm seyn als sie ist, wenn sie einer andern als sich selbst diese so einzige Reliquie gönnen sollte, da wohl selbst Klöster und Kirchen um weit geringere in Hader und Streit liegen? Ich berufe mich auf Sie selbst, liebes Klärchen! Mit was für einer Empfindung würden Sie es ansehen, wenn ich mit diesem unschätzbaren Bande den Fuß ihrer würdigen Tante schmückte? - Nein, meine Beste! Es sey fern von mir, durch meinen wohlgemeinten Tausch zwo so gute Seelen zu entzweien! Zudem gehe ich übermorgen nach Vauclüse; und sollten Sie beharren, den Tag von sich zu weisen, den ich Ihnen geben kann; nun, so weisen Sie zugleich das Geschenk auf immer von sich, das Ihnen die gebenedeite Jungfrau durch mich zudachte, und ich schwöre nochmals..."
 Hier streckte sie ihre Hände bittend nach mir - und ihr Gesicht und ihre Stimme wurden ganz feierlich. - "So sey es denn - wenn Sie nicht anders wollen, mein Herr! Aber bei der heiligen Concordia beschwöre ich Sie! heben Sie, bis zu unserer Vertauschung, dieses himmlische Pfand mit der Sorgfalt auf, die es verdient!"
 "O, das verspreche ich Ihnen, Klärchen!" konnte ich noch so ziemlich ernsthaft heraus bringen, und hätte gern aus ihrer Ermahnung mehr geschlossen, als, nach der Wichtigkeit ihrer Miene zu urtheilen, wirklich darin lag. - Indeß freute es mich schon, daß mich das liebe Mädchen für einen Günstling jener großen Heiligen zu halten schien, mit der mich der gelehrte Kirchner, mittelst eines Doppeldukatens in so angenehme Bekanntschaft brachte, und schmeichelte mir unendlich, daß schon der erste Versuch meiner aus dem Traktate de probabilitate geschöpften Beredsamkeit, selbst über meine Erwartung, so guten Eingang gefunden hatte.
 Ich führte nun, da ich die Treppe frei sah, voll Zufriedenheit mit dem Gegenwärtigen, und voll süßer Ahnung für das Künftige, die schöne Heilige hinunter, mit der ich in einer glücklichen Viertelstunde um vieles bekannter geworden war, als es der scharfsichtige Herr Fez hoffentlich in seinem Leben werden soll.
 Ehe wir auf die Gasse traten, erinnerte sie mich freundlich, daß man nicht gewohnt sey, sie von irgend einem andern Herrn, als ihrem Gewissensrathe, begleitet zu sehen. Es war eine bittere Erwähnung. Indeß ließ ich sogleich ehrerbietig ihre Hand fahren, und nahm sogar einen ziemlichen Umweg, um ihr Zeit zu lassen, mit ihren unbgreiflich kleinen Schritten vor mir zu Hause einzutreffen.
 Mich erwartete eine Aalpastete, ein rothes Feldhuhn und die schönste Wintermelone; aber hätte mich auch das Gastmahl des Lügners erwartet, so wäre doch meine Neugier, die mich nach dem Sammtkästchen zog, stärker gewesen als meine Eßlust. Ich öffnete es mit eben so viel Behutsamkeit als Begierde, und ging nun meine Beute auf das genaueste durch. - Aber wie schoß mir das Blatt, als ich, nach einer flüchtigen Bewunderung des heiligen Strumpfbandes, den päpstlichen Ablaßbrief überlaß! - Ich sah zu meiner Beschämung und Aergerniß, wie gar sehr ich mich durch meinen Vertrag mit Klärchen übereilt hatte. Ja, lieber Eduard! die Urkunde des heiligen Vaters wäre für einen Liebhaber - für einen König - unsern jetzigen nur nicht, Tonnen Goldes werth. Es ist unmöglich, daß unter so geringen Bedingungen, als ich aus Unwissenheit eingegangen habe, mein Tausch=Kontrakt bestehen kann. Die ersten drei Punkte dieses geistlichen Frei=Passes müssen schon jedes unparteiische Gericht davon überzeugen. Und der siebente Punkt vollends! Nein, mein gutes Klärchen, du wirst den Preis gewaltig erhöhen müssen, wenn ich dich in den Besitz einer Reliquie setzen soll, an der so herrliche Indulgenzen haften.
 Es ist mir recht lieb, daß ich schon einige Bekanntschaft mit den großen Kasuisten in meinem Kabinette gemacht habe. Im Falle mich ja meine erhöhte Forderung mit Klärchen in Streit verwickeln sollte, werden sie hoffentlich alle auf meine Seite treten, und zu meinem Vortheile entscheiden. Kannst du es mir wohl in diesen Umständen verdenken, lieber Eduard, daß ich heute die Unterhaltung mit diesen in meinem Prozesse so wichtigen Männern der deinigen vorziehe? Wenn ich ihn gewonnen habe, so will ich gern desto länger zu deinen Diensten seyn. (II,110-123)

Doch vor den Höhepunkt der Lust haben die Götter die Kasuisten und den § 7 des päpstlichen Ablaßbriefes gesetzt.

Mulierem aut virginem quae, tempore quo hanc ligaturam cruralem sanctissimam portat, cum bruto, monacho aut haeretico, peccatum quodcunque carnale committit, eo ipso et auctoritate nostra Papali, inculpabilem declaramus, absolvimus et in integrum restituimus. 3)

(II,129)


Das ergibt eine völlig neue Situation: Wilhelm stellt aufgrund dieses Paragraphen neue Forderungen, die heftig diskutiert werden - es geht hin, es geht her... man kommt zu fast keinem Ergebnis ... einige kleine Einblicke werden gewährt ... eine kleine Kostprobe:

 Während dieser meiner psychologischen Betrachtung hatte Klärchen den rechten Fuß, der nicht mit in den Vertrag geschlossen war, gerade vor sich auf den Sopha gelegt, als ob er, wie die Hand des Gerechten, nicht wissen sollte, was der linke thäte - Und -

    Und voller Güte streckte sie
    Den auserwählten Fuß bis an das weiße Knie,
    Und sah, erröthend, mich bei meiner Arbeit lauschen.
    Mit zitternder, verwöhnter Hand
    Löst' ich das eingetauschte Band
    Voll Scham, so wenig einzutauschen. -
    Ach, daß ich's eher nicht bedacht!
    Was hätt' ich nicht mit einer Thräne
    Der heiligen, erfahrnen Magdalene
    Für einen guten Kauf gemacht!

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 Der richtigen Erklärung des Grundtextes allein hatte ich es zu verdanken, daß meine Augen sich nicht bloß mit der herrlichen Form des Fußes begnügen mußten, der, mit einem weißseidenen Strumpf bedeckt, mir in der Hand lag. Nein, Eduard, ich gewann, kraft meiner Exegese, auch noch den Anblick einer guten Spanne der blendendsten Haut, wie sie wohl selten ein Schriftgelehrter zu sehen bekommt. Welche Entdeckungen der Sinnlichkeit versprach mir nicht diese kleine Probe der unverhüllten Natur, sobald ich nur die heiligen drei Könige hinter mir haben würde, die mir verzweifelt langsam zu reisen schienen. Die Lust des Anschauens fesselte mich so sehr, daß ich - wer kann's mir verdenken? - alle Kunstgriffe der Analyse und Polemik aufsuchte, um nur mein Wohlbehagen zu verlängern. - "Hier, schöne Klara," stotterte ich, indem ich bald dieser, bald jener Hand vergönnte, wechselweise den elastischen Fuß zu umspannen, damit keine bei der Spende eines süßen Gefühls zu kurz käme, "hier ist die Gegend, wie die besten Ausleger des Talmud versichern, wo die Jungfrauen in Kanaan und Judäa den Gürtel zu tragen pflegten, obgleich" - meine Finger wagten sich noch über einen Zoll hinauf - "der gelehrte Ritter Michaelis behaupten will, daß es sehr die Frage sey, ob nicht nach dem samaritanischen Texte" ...  (II,136-137)

Wenn man mit dem Talmud nicht weiterkommt, muß man zu den christlichen Schriftgelehrten, zu den spitzfindigen Büchern der Jesuiten... Die bieten für alle Fälle die jeweils passende Auslegung... Und auch Wilhelm findet bei den ihm verhaßten Theologen das, womit er sein Klärchen überzeugen kann... Und endlich - nach dreiundsechzig Seiten Kampf - endlich:

 Welch ein Abenteuer! So einfach in seinem Beginnen, und doch so verwickelt in seinem Fortgange, und doch so herzerschütternd in seinem Ende! Mystische und magische Kräfte im Streite mit den Kräften der Natur! Mönchische Empörung gegen Papstes=Gewalt! Tumult des Gefühls! Ohnmacht des Willens! Und dieser Reichthum von Erfahrung in dem beschränkten Raume weniger Augenblicke!  (II,200)
(...)
 Doch Freund, was erschöpf' ich meinen Athem in alltäglicher Prosa? Ist die Größe und Seltenheit meiner Erfahrung in dieser feierlichen Stunde - ist sie nicht mehr werth? und kann es Bilder geben, die des Firnisses der Dichtkunst würdiger wären, als die Hingebung einer Heiligen in das allgemeine Schicksal der Schönheit? So denke dir denn, lieber Eduard, die beängstigte Heilige, denke dir Klaren, kurz vor dem Hintritte in den Freistaat der Natur, dicht neben mir auf dem traulichen Sopha -

    Mit schnellern Schwingen schien mein Traum,
    Als selbst der Gott der Zeit, zu fliegen.
    Das Chor begann, die Glocken schwiegen
    Und unsre Tante mochte kaum
    Am Schemel ihres Götzen liegen,
    Als meine Küsse schon den Raum
    Des Äthers theilten und den Saum
    Von Klärchens Halstuch überstiegen.

    Sie flatterten dem Silberschein
    Der Brüßler Kanten - wie die Mücken
    Dem Lichte, zu, voll Sorgen, in die fein
    Gesponnenen Verrätherein
    Die Flügelchen nicht zu verstricken,
    Und schwirrten auf und ab und flogen aus und ein,
    Bis es dem Schwarm gelang, das letzte kalte Nein
    Auf Klärchens Lippen zu ersticken.

    "Du, des Enthüllens werth, du, wie die Warheit rein,
    Um angethan wie sie zu seyn,
    Bespiegle dich in ihren Blicken!
    Ihr eigner Nimbus hüllt sie ein;
    Sie deckt die Quellen nicht, die ihr die Kraft verleihn,
    Das Universum zu erquicken,
    Läßt gern ihr Heiligthum mit Frühlingssprossen schmücken
    Und Primeln sich am liebsten weihn,
    Und kann dir - nein - sie kann dir nicht verzeihn,
    Mit Nadeln ihren Freund zu picken.
    Hör' auf, beschwör' ich dich, bei diesen Streiterein
    In ihr Gebiet, bei diesen kleinen Lücken,
    Die ich dir abgewann, bei diesen Tändelein,
    Die mich so königlich beglücken -
    Hör' auf, den Prediger der Wahrheit lahm zu zwicken!
    Mariens Band ist lange noch nicht dein,
    Und nach dem päpstlichen Verein
    Wird mancher Flor sich noch verrücken."

    So sprach ich ihr an's Herz - allein
    Die Fromme schrie, als wollte sie die Krücken
    Des heiligen Synklets erschrein:
    "Dir fleh' ich, Trägerin der großen Eins in Drein,
    Dich schwesterlich zu mir herab zu bücken! -
    Hilf, Heilige von Falkenstein,
    Hilf mir - und hilf vor allen Stücken
    Mein sprödes Kleinod mir befrein!
    Hab' ich nur erst, was himmlisch ist, im Rücken,
    So mag die Weltlust kurz und klein,
    Was irdisch an mir ist, zerpflücken."
    "Dein Kleinod?" - "Ja, mein Herr! Sind Sie denn vor Entzücken
    Ganz blind? und wollen Sie denn mein
    Hochheiliges Nicaisen-Bein,
    Das mir hier hängt, durchaus zerknicken?
    Nach Ihrer Art, sich kräftig auszudrücken,
    Was könnte da wohl haltbar seyn?" -
    "O", rief ich, "den will ich schon weiter schicken;
    Kein Heiliger soll uns entzwein!"

    Ein holder Augenblick befreite
    Sie dieser frommen Angst. Vergnügter als dieß zweite,
    Knüpft' ich ihr kaum das erste Bändchen ab,
    Das mir in unserm offnen Streite
    Das Kaperrecht auf alle gab.
    Frei irrte nun mein Blick, sobald als der Geweihte
    Zu Tage kam, die Läng' und Breite
    Des aufgehellten Pfads herab.
    Welch Labyrinth! als schwebt' er erst seit heute
    Im Raume der Natur - als hätt ein Zauberstab
    Die kleinen Hügelchen zur Seite
    Aus Äther aufgewölbt - Und wäre dieß ein Grab
    Für kalte Katakomben=Beute?
    Und hier, wo du, geliebte Dulderin
    Kaum meinen Kuß verträgst, hat dein bethörter Sinn
    Ein morsches Todtenbein gelitten?
    Und ich? ich sollte nicht an diesen Küsten hin,
    Weil ich nicht Sanct Nicaise bin,
    Um eine kleine Landung bitten? -
    O! ihr, die mit dem Geist des Malers von Urbin
    Den höchsten Preis der Kunst erstritten,
    Malt, es wird Zeit, malt mir der Unschuld Cherubin,
    Der, aus dem Staub der Welt nach dem Olymp zu fliehn
    Schon im Begriff - die Fittiche beschnitten
    Sich fühlt; malt seinen Glanz - malt seine Angst - malt ihn
    Vermögt ihr's, wie er mir erschien,
    Ganz im Costum der Adamiten!

    Wie unterm vollen Mond die Nebel sich verziehn,
    Trat jetzt aus dem Gewölk von Flor und Mousselin
    Der junge Busen vor. Zum Erstenmale glitten,
    Der Indulgenzen froh, die ihm der Papst verliehn,
    Der Sonne Strahlen über ihn.
    Kein Reinerer vereint, seit dem Verfall der Sitten
    Von Ilium bis Rom, von Paphos bis Stettin,
    Mehr Augenlust für Sybariten
    In seinem Pünktchen von Karmin,
    Und kleiner blähte sich mit wildern Phantasien
    Der Angst, so vor der Zeit den Rubikon beschritten,
    Die Blumen abgemäht, die unter ihm gediehn,
    Sein ganzes Tempe mit Ruin
    Bedeckt zu sehn, sobald es, mitten
    Im Rausche des Gewands, der List gelang, den dritten
    Und letzten Knoten aufzuziehn.

(II,204-207)
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(...)
 Lesen Sie also nicht weiter, meine jungen liebenswürdigen Freundinnen aller folgenden Jahrhunderte, wenn Ihnen die Ruhe Ihres Herzens und der Glaube Ihres künftigen Eheherrn lieb ist! Es ist wahrlich nicht der Mühe werth, daß Sie Ihre Augen mit diesem veralterten Plunder verderben! Studieren Sie lieber eines von den schönen moralischen Werken, in denen es vermuthlich Ihre Zeit der meinigen um ein Großes zuvor thun wird! Stecken Sie Ihr Halstuch fester, das ein wenig klafft! Ziehen Sie Ihre Schleifen enger zusammen, und lassen Sie mich jetzt ruhig mit meinem Freunde schwatzen! Ein junger Mensch, der sich mit einem andern Flüchtling über die Irrthümer seiner Jugend unterhält, geschähe es auch nur aus der weisen Absicht, der Eitelkeit verführerischer Wollust näher auf die Spur zu kommen, ist wirklich kein Gegenstand der Aufmerksamkeit für ein behutsames Mädchen; und ich gestehe Ihnen offenherzig, daß ich nichts weniger als die Ehre Ihrer Gegenwart bei dem nächsten Auftritte erwarte. Ich sage es Ihnen im voraus, daß dort Alles bunter durch einander gehen wird, als Ihre stille Lage vertragen kann. Sie würden, wie Sie auch wohl schon aus den Vorbereitungen geschlossen haben, nichts mehr und weniger, als die geheimen Reize einer Heiligen blos gestellt finden - eine Ansicht, die, bei der Kenntniß Ihrer eigenen Reichthümer, Ihr Auge nur empören muß, ohne es zu befriedigen. Sie würden - sehen Sie Sich in dem Spiegel! - eine Person von gleichem liebenswürdigen Anstande in einer Unordnung finden, in die Sie hoffentlich nie zu geratHen wünschen. Und sollten Sie vollends einen Seitenblick auf mich werfen - ach! so würden Sie noch weniger begreifen können, wie ein Verehrer der unbescholtenen Sittsamkeit Ihres Geschlechts ihr jemals so nahe zu treten im Stande seyn konnte. Die Wißbegierde meines forschenden Geistes, mein natürliches Kunstgefühl, mein Contrakt mit Klärchen, und die berauschende Hitze des hiesigen Klima's, würden mich doch nur schlecht bei Ihnen entschuldigen; auch würde das Versprechen, mich künftig artiger zu betragen, nur wenig bei so holden Geschöpfen verfangen, die ich einmal genöthigt hätte, sich, gleich empfindlichen Pflanzen, in sich selbst zurück zu ziehen, und was mich am meisten kränken würde, ich könnte, wenn Sie meine Geschichte nun ganz übersähen, mit der Wahrheit in ein Geschrei kommen, das sie doch nicht immer verdient. - Die Lehre, die etwa für Sie, meine Freundinnen, in meiner Begebenheit liegt, sind Sie gewiß schon scharfsichtig genug gewesen, auszufinden und Ihrem Herzen einzuprägen, da ohnehin schwerlich einer meiner moralischen Vorgänger sie Ihnen anschaulicher gemacht hat. Um jedoch allem Mißverständnisse zuvor zu kommen, will ich sie hier zum Überflusse mit dürren Worten wiederholen: Willst du zu den klugen Jungfrauen gehören, liebes Mädchen, so sey geizig mit Allem was dir angehört! Laß dich weder durch männliche Bitten, kämen sie auch aus dem Munde eines Kasuisten, noch durch dein eigenes weibliches Gefühl, das oft noch kasuistischer ist, als jene, zu der anscheinenden Kleinigkeit verleiten, auch nur dein abgelegtes Strumpfband gegen ein anderes zu vertauschen, das dir dein Liebhaber anbeut, hätte es auch selbst die Mutter Gottes getragen! - Trauen Sie meinen Worten, liebe Kinder! der Satz, der jetzt so fest steht, möchte nur locker werden, wenn Sie daran künsteln und nach Beweisen forschen wollten, die ihn noch mehr bestätigen. Ich habe denen, die meinem Rath folgen - aber auch leider habe ich derjenigen von Ihren Gespielinnen nichts weiter zu sagen, die, ungeachtet meiner redlichen Zurechtweisung, es dennoch wagen kann, den Vorhang von der andern Hälfte meines Natur= und Kunstgemäldes wegzuziehen. Sie büße die Strafe ihrer Verwegenheit, und gebe mir keine Schuld, wenn sie in den Tropfen der schwachen Hortensia Hülfe suchen, und ein geschwindes Kopfweh vorschützen muß, um bald auf ihr Ruhebette ihrem nachdenkenden und nachfragenden Liebhaber aus den Augen zu kommen. Ja, wenn es nach Zeit und Umständen noch gefährlicher abliefe, ich bin außer Schuld, und verwahre mich hierdurch auf das Feierlichste gegen alle Vorwürfe ihrer Frau Mutter, und gegen die Verweise ihrer eigenen reuigen Thränen, so wie ich dagegen von Herzen gern auf den Dank des Entzückens Verzicht leiste, den mir, eine Stunde nach der verbotenen Lektüre, ihr Hausfreund möchte schuldig zu seyn glauben.  (II,210-213)

Auch wir wollen hier unseren moralischen Mantel ausbreiten und schnell all die zärtlichen Andeutungen vergessen, die uns unser Wilhelm bisher geoffenbart hat. Auch sein hitziger Kopf (von anderen Körperteilen ganz zu schweigen) kühlt wieder ab, nicht durch eine kalte Dusche, sondern, wie es sich für einen Kopfmenschen geziemt, durch eine ausgiebige Rousseau-Lektüre...
Doch der Liebeshandel hat ein Nachspiel: Der liebestolle Intellektuelle verbrennt die Bücher einiger Kasuisten, rettet allerdings ein Blatt (mit dem es eine nicht näher zu erläuternde Bewandtnis hat) aus dem Feuer. Sein >Verbrechen< wird entdeckt, angezeigt und er muß um seine allesgeliebte Freiheit bangen. Nach einem Gespräch mit seinen Bediensteten kommt ihm eine grandiose Idee, die auch augenblicklich seine Freilassung zur Folge hat: Er wirkt ein Wunder!!! mit der Hilfe eben dieses geretteten Blattes. Nachdem sich unser Wundertäter ausgiebig hat feiern lassen, findet noch eine kleine Orgie statt, auf der Klärchen (zum wievielten Male?) einmal mehr den >Besitzer< wechselt...
Wilhelm macht sich aus dem Staub und reist schwadronierend und spekulierend weiter gen Süden nach Marseille. Dort lernt er den Arzt Sabathier kennen, der seine ganze Kunst anwendet, um unseren Gemütskranken zu heilen. Er entläßt Wilhelm mit folgenden Worten aus seiner Obhut:

 Mein trefflicher Arzt besuchte mich diesen Morgen eine Stunde früher als gewöhnlich, war, wie es schien, mit meinem Pulse und meinen Augen zufrieden, und nachdem er auch in meiner gestrigen Schreiberei nichts zu tadeln fand, sprach er mir mit der Stimme eines Engels zu: "Ihr Erntetag ist gekommen, lieber Freund. Genießen Sie von nun an der Früchte, die in den schwülen Stunden ihrer Krankheit gereift sind - aber genießen Sie solche mit der Behutsamkeit eines vernünftigen Wesens. Dieser Rath gehört so gut zu meiner Gerichtsbarkeit, als Körper und Seele zu dem Gebäude gehören, das unsere beschränkte Kunst in Bau und Besserung erhalten, vor feindseligen Erschütterungen beschützen, und vor seinem zu frühen Einsturze bewahren soll. - Folgen Sie, um der mißlichen Hülfe der Kunst zu entbehren - nur den mütterlichen Anweisungen der Natur." - "Das," fiel ich ihm in die Rede, "hat mir schon ein anderer großer Arzt gerathen, der Jerom heißt." - "Aber wohl zu merken," fuhr er fort, "der schönen Natur." - "Diesen Beisatz," erwiederte ich, "hat Jerom vergessen." - "Desto schlimmer," antwortete der brave Mann; "ohne diesen ist der ganze Rath nicht viel werth, und gibt in unbewachten Stunden zu großen Mißdeutungen Anlaß."  (IV, 178-179)

Kurz darauf trifft er einen alten Freund wieder: Es war einer der schätzbarsten Menschen, die ich je geliebt habe - der Marquis von Saint=Sauveur, der vor neun Jahren zu Berlin alle Zirkel belebte, in die er eintrat. (IV, 183-184) Von diesem alten Freund lernt er, den Blick für die schöne Natur zu schärfen. Durch den Anblick eines wunderschönen, im Sonnenaufgang erstrahlenden Tales wird er nun endgültig geheilt. Und auch seine poetischen Triebkräfte erwachen wieder:

 Jetzt waren die Beweise meiner Genesung vollständig; die Natur hatte den letzten beigebracht, denn sie hatte mein Dichtergefühl wieder erweckt. Mein Herz schwoll, meine dunkeln Empfindungen bildeten sich zu harmonischen Worten, ätherisches Feuer erhellte den Blick, den ich dankend gen Himmel schlug, eine singende Lerche stieg und funkelte mit ihm zugleich in die Höhe, und mein Lied begann.

    Staub, der, zu Gott emporgedrungen,
    Am Fußtritt seines Thrones glimmt,
    Ziel meines Psalms, im Chor gesungen,
       Das jubelnd, dich umschlungen,
       In deinem Aether schwimmt!

    Seit du, der leeren Nacht entsunken,
    Dein stolzes Licht von Ihm geholt,
    Sah es in dem Gewühl der Funken,
       Die durch den Luftraum prunken,
       Schon manchen Stern verkohlt.

    Nur deinem Urgestirn veraltet
    Kein Reiz! Mit gleicher Kraft beflammt,
    Treibt es sein großes Rad, entfaltet
       Die Zeiten, und verwaltet,
       Wie sonst, sein Mittleramt.

    Und lenken aller Erden Psalmen
    Gleich nicht den Ausfluß deines Strahls,
    Doch überkleidest du die Palmen
       Des Athos, wie die Halmen
       Des rauhsten Schweizerthals:

    Hat nicht ein Geist, aus dir geboren,
    Der Liebe Freudenquell gewürzt,
    Der aus den Urnen aller Horen,
       Vertheilt - doch unverloren,
       In alle Wesen stürzt?

    Juwel in des Erschaffers Kranze,
    Und erstes Wunder seines Hauchs,
    Du leitest, schmückst, vereinst das Ganze -
       Eins fehlt nur deinem Glanze -
       Bewußtseyn des Gebrauchs.

    Soviel dir Kraft ward, doch entquellen
    Dir Triebe nie, die, warm und rein,
    Die Brust des edeln Mannes schwellen,
       Freund seiner Mitgesellen
       Am Bau der Welt zu seyn.

    Du stehst im größten Wirkungskreise,
    Als Sklave, der im Joche prangt -
    Beherrscher seiner kurzen Reise
       Durchs Leben, dringt der Weise,
       Wohin sein Herz verlangt.

    Er wägt sein Daseyn nur nach Thaten,
    Nach Pfunden, die sein Geist erringt,
    Froh, wenn der Hoffnung seiner Saaten
       Auch nur ein Keim gerathen,
       Der in die Zukunft dringt.

    Sey größer noch! Um deine Würde
    Vertauscht, selbst auf dem Weg ins Grab
    Der Staubbewohner einer Hürde
       Nicht seines Lebens Bürde,
       Nicht seinen Wanderstab.

    Denn bald zu höhern Geistesproben
    Entrückt den Prüfungen der Zeit,
    Schwingt ihn die Hand, die dich erhoben
       Von diesem niedern Globen
       In die Unsterblichkeit.

    Durch diesen heitern Blick ins Freie
    Verliert im Nebel meiner Bahn
    Sich keine Stunde mir - ich weihe
       Dem Ausgang sie, und reihe
       Sie meiner Zukunft an;

    Daß, wenn ich einst zu höhern Sphären
    Auf deinem Lichtweg übergeh',
    Der Fruchtstand vieler guter Aehren
       Noch in dem Thal der Zähren
       Um meinen Hügel weh'.

(V, 6-9)


DAS SYSTEM DER ÜBERRASCHUNGEN des Marquis von Saint-Sauveur hat geholfen... - Wilhelm verweilt noch eine Woche bei seinem Freund ... eine nun wirklich reine und unschuldige Liebe zu der noch unschuldigeren und noch reineren und noch edleren Agathe bringt Wilhelms Genesungsprozeß zum Abschluß:

 O, der Mensch ist nicht so bösartig, als man ihn gewöhnlich ausschreit, oder er sich oft selbst hält! Er sucht zwar nicht gern die Scenen auf, die sein Herz rühren und bessern könnten, aber führt ihn der Zufall dahin, so hängt er sich leidenschaftlicher daran, als an seine strafbaren Irrthümer. Schon traten, als ich mich dem Park näherte, die verbleichten Bilder der Natur hinter dem grauen Vorhang, der sie verbarg, farbig wieder hervor. Das Säuseln des Erwachens - der Gesang des Lebens - die Freude des Wiedersehens - die Auferstehung eines neuen Tags begann. Wie möchtest du jetzt an dein Bette denken, sagte ich zu mir selbst, und wenn es Agathens Reize umschlösse, ich würde mein Herz zuvor durch den Anblick der aufgehenden Sonne erwärmen, ehe sich meine Augen in den ihrigen berauschten; und wäre es der fröhlichste Bürger der Erde, der ungeduldig anklopfte, er müßte warten, bis ich seinen Schöpfer begrüßt und in dem Meere seines Lichts meinen Bildungstrieb gereinigt hätte. Ich lagerte mich an den Stamm einer Balsamfichte, und erwartete das große Schauspiel mit dem Entzücken, das ich schon kannte. Die Wolken zerflossen, der Mond verblich, die Sterne verloschen, und nun schwenkte sich das gebietende Gestirn aus der Unterwelt über unsern Erdball, ergoß seinen Lichtstrahl und wirkte. Mein Auge spiegelte sich in den Thautropfen, die, wie reine Herzen, wenn sie brechen wollen, noch einmal aufschimmerten und verdunsteten. Unwillkürlich streckten sich meine Arme dem Wunderballe entgegen, der an den Bergsaum heraufrollte, und der Drang hoher Empfindung suchte einen Ausweg über die lallenden Lippen: Ach wo, rief ich in meinem Entzücken - wo gäb' es in der Natur einen Gegenstand, der rührender an das menschliche Herz spräche?  (V, 218-219)

Es folgt die Rückreise - ein wenig umständlich - ein wenig verworren... Und auch mit unserem Freund geht es bergab: Die so große südfranzösische Stimmung und Seelenlage geht nach und nach wieder verloren. Die ursprüngliche Ermüdung greift wieder Platz... Spannend noch einige Erlebnisse, die mit dem Ankauf alter Staatsurkunden im Kloster zu Cotignac zusammenhängen. Spannend auch die Flucht aus Toulouse auf einem russischen Schiff nach Holland. Dort trifft er seinen alten Freund Jerom wieder. Durch seine Vermittlung lernt er eine junge Naive kennen, die ihm eine Kostprobe ihrer Dichtkunst schenkt, einen in der That höchst merkwürdigen Schlußstein für das Gewölbe meines Tagebuchs (VII, 107). Er soll auch diese kleine 'Vor/Lesung' würdig beschließen als Beispiel unverkünstelter Poesie, als Medizin für übersättigte literarische Mägen, die nicht mehr echt von falsch unterscheiden können...

    Behagten Euch nur solche Waaren,
    Wie sie, gestempelt und verzollt,
    Minervens Polterkarrn von Jahren
    Zu Jahren auf die Märkte rollt;

    So, Freunde schlüpfet Ihr vergebens
    In meine Bude. Ein Gericht
    Zur Stärkung auf dem Gang des Lebens
    Ist höchstens, was sie Euch verspricht.

    Ich hab' auf meinen Rasentischen
    Nur Näschereien ausgelegt,
    Die mir, den Wandrer zu erfrischen,
    Mein Gärtchen leicht zusammen trägt.

    Ist gleich mein Blumenkranz kein Zeichen
    Für eine Modehändlerin,
    So lockt er doch, denn bei ihm streichen
    Der Fahrweg und der Fußsteig hin.

    Auch graut der Morgen kaum, so halten,
    Wie Wetter, Wind und Zufall will,
    Oft unerwartete Gestalten
    An meiner Tonnen=Nische still.

    Wie viele nähern meinem Zaune
    Sich nicht um eine Hand voll Schlehn,
    Wenn Bücher=Ueberdruß und Laune
    Mit ihrem Geist ins Grüne gehn.

    Den Richter, der mit krauser Stirne
    Zu einer Ehescheidung trabt,
    Hat manchmal eine Jungferbirne
    Aus meinem Weidekorb gelabt.

    Aus meinem thönernen Pokale
    Berauschte jüngst ein Priester sich,
    Als er nach seinem Filiale,
    Mit Schweiß betropft, vorüber schlich.

    Dem Mädchen, das, vom Stadtgewürze
    Erhitzt, aufs Land nach Kühlung läuft
    Hab' ich, zu Pfunden, oft die Schürze
    Mit Mirabellen angehäuft.

    Bald find' ich eine Federspule,
    Bald eine Musterschrift im Gras,
    Die ein Entlaufener der Schule
    Im Morgenschmaus bei mir vergaß.

    So oft sich meine Körbchen leeren,
    Rück' ich mit neu gefüllten vor,
    Mein Contobuch? - - kann ich beschwören
    So gut als Rousseau seins beschwor.

    Um vieles zwar säß' ich bequemer,
    Wohl gar am Rathhaus unter Dach,
    Ahmt' ich dem Proteus unsrer Krämer
    In seinen Handelskünsten nach;

    Der bald mit Perlen ferner Flüsse
    Mit Gold aus Ophir Wucher treibt,
    Sein Salz und seine tauben Nüsse
    Nur aus Elysium verschreibt;

    Bald Engelsreinigkeit den Narben
    Gefallner Unschuld unterschiebt,
    Glanz dem Betrug und Rosenfarben
    Verblühten Wangen wiedergibt;

    Bald auf dem Wollenraub der Herde,
    Die ihn umblöket, eingewiegt,
    Im Traum die mütterliche Erde
    Bis an den Himmel überfliegt,

    Und wohl noch wähnt, vom nächsten Sterne
    Herabgeschneuzt und fortgeschnellt,
    Er sey die größte Blendlaterne
    Die je das Weltall aufgehellt.

    Doch, was ein Irrwisch aufgekläret,
    Bleicht bald am Lichte der Natur;
    Was sie erzeugt, ist nur bewähret,
    Was sie bewährt, erhält sich nur.

(VII, 112-115)



Als Ergänzung zur Vor/Lesung noch eine Ode, in der unser melancholischer Reisender versucht, über seine Krankheit, die Krankheit anderer großer Dichter und das allgemeine Schicksal nachzudenken...
Wenn mich einst Husten, Stein und Gicht
Aus jugendlichen Reihen jagen,
An meinem hageren Gesicht,
Melancholie und Schwindsucht nagen,
In jenen unwillkommnen Tagen,
Wo man das Ordensband, das unsre Brust umrauscht,
Den Sack voll Gold, auf den der Erbe lauscht,
Gern um ein Pflaster für den Magen
Und einen Kräuterthee vertauscht,
Nur Aerzte noch nach unserm Pulse fragen,
Kein Kuß sich mehr an unsre gelbe Haut,
Kein kluges Mädchen mehr an unser Bette traut,
Und uns nur Schmerz und Mißbehagen
Von einem Stuhl zum andern tragen -
Wenn mich des Landes Fett nun lange g'nug genährt,
Mein Fürst, den ich erzog, so sehr mein Alter ehrt,
Und ihm Erholung gönnt, daß er mit süßen Mienen,
Doch mit dem Vorbehalt, wenn es die Noth begehrt
Sich meines treuen Raths noch ferner zu bedienen
Mich in dem Spiegelsaal zum Veteran erklärt;
Wenn sein Heiduck nun jener Furche lächelt,
Die meine weise Stirne zieht,
Und die Prinzeß sich stärker fächelt,
Je näher sie mich kommen sieht,
Belebter nun der Hof mit neuen Müßiggängern
Sich ohne mich um seine Axe dreht,
Um mich herum die Schatten sich verlängern,
Und mein Gestirn, das jetzt im Mittag steht,
Den Kreis verläßt und untergeht -
Wenn Wielands ausgespielte Flöte
Nun auch nicht mehr die schlaffe Seele rührt,
Und mich nicht mehr die Abendröthe
Nach Amathunt in unsers Göthe
Geheime Myrthenwäldchen führt -
Und wenn auch dir, der mir um eine Stufe
Des Lebens dem vertrauten Rufe
Des Todesengels näher steht,
Manch Lüftchen schon aus Platons Haine
Die Wettgesänge der Gemeine,
Die deiner harrt, entgegenweht;
Wenn auch nun du, mein Leukon, in den Frieden
Der Seligen hinübereilst,
Die Nebel, die den Lebensmüden
Vom Aether der Verklärten schieden,
Mit deiner Rechten schon zertheilst,
Nur mit der Linken noch hienieden
An deines Freundes Brust verweilst;
Wenn dir schon lächelnd auf der Schwelle
Der Ewigkeit das neue Licht,
Wie deine Tugend, rein und helle
Mit Jubelglanz entgegenbricht,
Dein Mund mich küßt und sterbend spricht:
Er war mein Freund, mein trautester Geselle,
In Scherz und Ernst, trotz seiner Schelle,
Ihr Seligen, ach trennt uns nicht!
Dann schließe deine engste Gasse,
Der dickste Duft von deinen Spezerei'n,
Bis ich einst ganz die Mumie dir lasse,
O Montpellier, mich Abgelebten ein.
Dein Hundsstern sauge noch die letzten Lebenssäfte
Mir aus und leuchte mir in mein willkommnes Grab. -
Nur jetzt, da noch viel fröhliche Geschäfte
Mich weiter ziehn und alle meine Kräfte
Mir nöthg sind, laß von mir ab!
(VI, 124-126)



FußNoten:
1) Mamsell Cadiere, ein schönes und so unschuldiges Mädchen, daß sie lange Zeit den schändlichen Mißbrauch, den Pater Girard mit ihr im Beichtstuhle trieb, für Absolution hielt. Die Geschichte machte unter Ludwig dem Funfzehnten, so großes Aufsehen, daß sie zu vielen Schriften Anlaß gab.
2) Zitiert wird nach: A. M. von Thümmel's sämmtliche Werke, G. J. Göschen'sche Verlagshandlung, Leipzig 1853/54.
3) Sehr frei (und so ganz im Sinne Wilhelms) übersetzt bedeutet dies, daß die Jungfräulichkeit einer Frau, die dieses heilige Strumpfband trägt und sich mit einem Ketzer oder Mönch einläßt, sofort wiederhergestellt wird. - Wahrscheinlich ein Wunschtraum vieler Jünglinge und Jungfrauen!