Moritz August von Thümmel


Moritz August von ThümmelIch müßte mich sehr irren, oder Einiges im Buche, zumal unter den Versen, läßt sich schlechterdings nicht besser machen. Noch besser wäre vermuthlich nicht mehr für uns. Als ich es las, wußte ich vom Verfasser nichts, und da wünschte ich Deutschland sehr, daß es ein noch unbekannter seyn möchte. Welcher Ausflug, so auszufliegen! So ist es aber eine vielleicht zum letztenmale zurückkehrende Taube, die dieses Blättchen mitbrachte, das allemal ein Land der Verheißung nahe hoffen läßt. Ich habe manche Verse sechs=, siebenmal gelesen, blos die Applicatur zu bewundern, mit der er sich gleichsam vorsätzlich durch Parenthesen den Weg zu versetzen scheint, um hernach wie die glätteste Schlange durchzuglitschen, ohne auch die kleinste Faser von Sinn und Reim hinter sich zu lassen. Man sagt, Boileau habe seinen zweiten Vers immer zuerst gemacht; Thümmel ist weiter gegangen: er machte erst den dritten, dann den zweiten, und dann den fünften, oder er hat sie, welches mir wahrscheinlicher ist, wie ein Schöpfer, alle zugleich gemacht.  (Lichtenberg an Sömmering, 1791)

Daten:

geboren am 1738 auf dem Rittergut Schönfeld bei Leipzig
1754 - Schulbesuch in Roßleben (Thüringen)
Studentenzeit in Leipzig, anschl. div. Staatsdienste
1762:   Wilhelmine. Ein Heldengedicht in Prosa
1771:   Die Inoculation der Liebe
1810:   Das Erdbeben von Messina
1791-1805: Die Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich ...
gestorben 1817.


Zum Buch:

Es wurden Passagen ausgesucht und durch kurze Inhaltszusammenfassungen miteinander verbunden, so daß eine Vorstellung vom Gesamtwerk möglich sein kann. Andere würden andere Stellen suchen und finden. Im Zentrum der Auswahl steht die grandiose und phantastische "Strumpfband-Episode": ein in sich (ab)geschlossenes Kunstwerk.
Das Vorwort stammt von Christoph Martin Wieland: Wie man ließt.
Ergänzt wird die Auswahl durch ein Dossier der unterschiedlichsten Stimmen zu M. A. von Thümmel.


Textprobe:

Ich widmete also auch dießmal meiner Neugierde die halbe Stunde, die mir noch bis zum Mittage frei blieb, und stieg, nicht ohne Mühe, die von Menschen angefüllte Treppe hinauf nach dem Auktionszimmer.
Hätte ich einige Stunden früher eintreffen können, ohne mich um das belehrende Gespräch des Kirchners, das mir über alles gehn mußte, zu bringen, so wäre der Zeitvertreib, den ich hier fand, freilich noch vollkommener gewesen. Jetzt waren ungefähr nur noch ein Dutzend Nummern von einer der seltensten Sammlungen übrig, die wohl jemals versteigert wurden. Der arme Mann, der sie mit Aufopferung seines Vermögens errichtet hatte, und nun sein mühsames, kostbares Gebäude durch unbarmherzige Gläubiger zerstören sah, saß, von Schmerz und Unruhe gefoltert, in einem ausgeleerten Nebenzimmer, und flößte mir gleich beim Eintritt in den Saal das größte Mitleid ein, selbst ehe ich noch einen Blick auf seine Sammlung warf.
Ich habe zwar oft gesehen, lieber Eduard, daß vernünftige Männer Weib und Kinder und jedes andere Glück des Lebens hintan setzten, um Muscheln, Steine, Bücher, Schmetterlinge oder Gemälde zusammen auf einen Haufen zu bringen - habe ihnen oft, nach Verlauf eines ängstlichen Zeitraums, diese Spielwerke ihres Geistes durch die Gesetze und zu Abfindung ihrer Schulden entreißen, und sie an andere berühmte Kenner, wahrscheinlich zu einem dereinst ähnlichen Schicksale, übergehen sehen - aber noch nie fand ich den Vermögensbestand eines freien Mannes so sonderbar in einem Kabinet koncentrirt, als hier: denn stelle dir vor, Eduard! ich befand mich, ehe ich mir so etwas versah, unter einer vollständigen, Gott weiß nach was für einem System! geordneten Sammlung heiliger Reliquien. Die ersten und wichtigsten Stücke an ganzen Körpern, Gerippen und andern Schätzen aus Katakomben, waren schon an Mann gebracht; doch waren die noch vorräthigen Nummern, die eben ausgerufen werden sollten, dessen ungeachtet noch von sehr schätzbarem Gehalte. Sechs Fläschchen mit Thränen der heiligen Magdalene wurden einzeln abgelassen, und, nach meiner Einsicht, weit unter ihrem Werthe. Ein artiger Mann, der neben mir stand, erklärte mir die Ursache davon, als er meine Verwunderung merkte, und mir ansah, daß ich fremd war. "Wir sitzen hier," sagte er, "an der Quelle dieser Waare. Die Höhle von Beaumont, wo die Heilige zwölf Jahre ihre Sünden beweinte, liegt uns in der Nähe - Aber Sie, als ein Fremder, mein Herr, sollten Sie auf Spekulation für das Ausland kaufen; denn es ist keine Frage, daß sie hundert Procent daran gewinnen könnten." - Ich hätte vielleicht nicht übel gethan, seinem Rathe zu folgen; aber, du weißt es, Eduard, ich habe zu wenig Kaufmannsgeist, und ich ließ, einfältig genug, auch diesen wahrscheinlichen Gewinn einem Juden zu gute gehn, der mit Reliquien handelt.
Ein Finger des H. Nepomuk, an dessen Aechtheit einige Anwesende zweifeln wollten, und ein Schlußbein des heiligen Franz, hatten eben so wenig Glück, und mußten zusammen ausgeboten werden, ehe sie einen Abnehmer fanden. Ja, sogar Etwas von der keuschen Petronelle, in Weingeist aufgehängt, und recht hübsch conservirt, ging an einen Benediktiner, der es in Kommission erstand, für ein solches Spottgeld weg, daß ein paar artige Geschöpfe, die vermuthlich gleichen Namen führten, die Hände über dem Kopf zusammen schlugen. Dafür fanden sich aber zu der folgenden Nummer desto mehr Liebhaber, und das Kleinod verdiente auch mehr als ein Anderes diese ausgezeichnete Achtung. - Der Ausrufer selbst nahm ehrerbietig den Hut ab, als er das Sammtkästchen, das es verschloß, in die Höhe hielt, und nun unter einer allgemeinen Stille, die nur dann und wann ein Seufzer des Unglücklichen im Nebenzimmer unterbrach, folgendes Heiligthum ankündigte: "Nummer Ein tausend vier hundert und drei und dreißig; das Strumpfband der gebenedeiten Jungfrau und Mutter, das sie an ihrem linken Fuße zu tragen gewohnt war, inclusive eines dazu gehörigen Ablaßbriefes weiland Ihro Päpstlichen Heiligkeit Alexanders des Sechsten, nebst einem Handschreiben gedachten heiligen Vaters an die Gräfin Vanotia."
Diese Reliquie machte den Eindruck, der zu erwarten stand. Der ganze Haufe der Umstehenden gerieth in Bewegung, und verschiedene Stimmen zugleich erhoben sich mit einem Gebot von zehn, funfzehn und zwanzig Dukaten. Bei dem zweiten Ausrufe stieg es bis auf vier und dreißig. Nach einem kleinen Stillstande trat ein ansehnlicher Mann, mit der gesetzten Miene eines ächten Kenners, in's Mittel, und bot die gerade Summe von vierzig. Der Auktionator fing von vorn, und, um jedermann Zeit zu lassen, sich zu bedenken, mit gedehnter Stimme an: Einmal vierzig - zum zweitenmal vierzig Dukaten - Der Hammer war schon aufgehoben, und ich glaubte den vornehmen Mann schon ganz gewiß in dem Besitze dieser merkwürdigen Reliquie, als, aus der fernsten Ecke des Zimmers unvermuthet eine helle Stimme mit einem halben Dukaten überbot. Der Schall fiel mir sonderbar in das Ohr - ich erhob mich auf meine Fußzehn, und entdeckte - Himmel, wie ward mir! - das reizende Ovalgesichtchen meiner kleinen Nachbarin. War es Freude, oder Betäubung? - war es unwillkürlicher Trieb, ihr nachzulallen? oder sollte es eine Aufforderung seyn, ihre sonorische Stimme noch einmal hören zu lassen? Genug, kaum prallte ihr wohlbekannter Discant an die Saiten meines Herzens, so schlug mein Baß als ein Echo zurück: Einen halben Dukaten. - Der Laut war entwischt - Klärchen schwieg - die ganze Versammlung schwieg - und zu meinem Erstaunen ward mir das Heiligthum für ein und vierzig Dukaten zugeschlagen.
Wer war betroffener als ich, da mir die Nebenstehenden zu dem erlangten Besitze dieser Kostbarkeit Glück wünschten, und mir Platz am Zahlungstische machten, um den unschuldigen Einklang mit Klärchens Diskante theuer genug zu büßen! Um aller Heiligen und aller Götter willen! was willst du mit diesem Kabinetstücke anfangen? sagte ich heimlich zu mir selbst, als ich die Summe aufzählte; und der Gedanke, daß ich zugleich in ihr das Versprechen der heiligen Concordia ein und vierzigmal zurück gab, vemehrte mein Herzklopfen um ein merkliches. Nie hat wohl der Neid, der, als ich das Sammtkästchen in Empfang nahm, aus den Blicken derer hervor brach, die vor mir darauf geboten hatten, sich gröber versehen, als dießmal. Denn ungeachtet alle Umstehende, bei denen ich mit meinem Heiligthume vorbei ging, mich anlächelten und die Hüte abzogen; so hätte ich doch so unbefangen seyn müssen, als der Esel in der Fabel, der das Bild der Diana trug, wenn ich mir diese Ehrenbezeugung hätte zueignen wollen. Ich kam mir im Gegentheil in diesem Augenblicke überaus albern vor, und hätte nimmermehr vermuthet, daß mich diese mißlichen Umstände doch noch am Ende auf einen so klugen Einfall leiten würden, als ich eben faßte, wie, mit der letzten Nummer, eine Feder aus dem linken Flügel des Würgengels verkauft, die Versteigerung geendigt, die Versammlung im Aufbruch, und jedes nur darauf bedacht war, das erste auf der Gasse zu seyn.
Wenn ich prahlen wollte, Eduard, so könnte ich es dir als einen Zug meines erfindungsreichen Genies angeben, daß ich in diesem Tumulte den wichtigen Vortheil zu ergreifen wußte, den mir doch vermutlich nur die Gelegenheit und meine Schutzpatronin Concordia darbot. Ich übersah mit einem geschwinden Blicke, was hier für mich zu thun sey, studirte jeden meiner Schritte, den ich vor= oder seitwärts that, und leitete das Volk so geschickt, das es nothwendig, beim Austritte aus dem Saale, mich und Klärchen in einen so verengten Zirkel zusammen brachte, daß sie heilfroh seyn mußte, auf einen hülfreichen Arm zu treffen, um den sie ihre zarte Hand schlingen, und nun hoffen konnte sich, ohne erdrückt zu werden, aus diesem unbändigen Gedränge zu ziehen. Mächtiger Zufall! mein Verstand wirft sich hier nochmals in Staub vor dir nieder, und erkennt dich als seinen Herrn und Wohlthäter.
Ich wäre der heiligen Atmosphäre, die mich ungab, wäre des Dankes des Engels nicht werth gewesen, wenn ich den einzigen Augenblick, in welchem so viel für die Folge lag, ungenutzt hätte verstreichen lassen. "Meine vortreffliche Nachbarin," flüsterte ich ihr zu, indem wir uns auf dem Vorsaale so lange in ein Fenster zurück zogen, bis sich das Volk würde vertheilt haben, "es war wohl unartig, daß ich Sie überbot; ich hoffe aber, meine gute Absicht soll mich bei Ihnen entschuldigen. Sie können wohl denken, daß, so kostbar auch das Strumpfband seyn mag, das mir das Glück verschaffte, es doch für mich nur dann einen Werth haben kann, wenn ich es wieder an eine Person bringe, die es zu tragen verdient. Ein glückliches Ungefähr hat mich zu Ihrem Nachbar - aber Ihre Verdienste, liebes Klärchen, haben mich auch zu Ihrem eifrigsten Bewunderer gemacht. Ich dachte an Sie, theuerste Freundin, ich erblickte Sie in dem Augenblicke, als Sie auf dieses Kleinod boten, und es war mir unmöglich, nicht nach einer Sache zu ringen, die Ihnen lieb war, um sie Ihnen als einen Beweis meiner Hochachtung auszuliefern. Ich wünschte nur, daß sie dadurch in Ihren Augen noch eingigen Werth mehr bekäme. In dieser Rücksicht" - Hier stockte ich ein wenig, und ihre großen Augen schienen zu fragen, wo das hinaus wollte? - "hätte ich eben so gern mein ganzes Vermögen, als einen armseligen Theil davon aufgewendet. Ich empfahl mich der heiligen Concordia, meiner Beschützerin, und, wie Sie gesehen haben, nicht ohne eine recht auffallende Wirkung: sie verstopfte allen andern Liebhabern den Mund, selbst Ihre frommen Lippen, liebenswürdiges Mädchen, und verschaffte mir die kostbare Reliquie für diesen unbegreiflich geringen Preis." Klärchen erröthete von Sekunde zu Sekunde immer mehr, ohne mich zu unterbrechen. - "Um Ihnen indeß!" fuhr ich traulicher fort, "auch die kleinste Bedenklichkeit zu ersparen, ein Kleinod, für Sie zwar von unendlichem, für mich aber nur relativem Werth, anzunehmen - so erlauben Sie mir, meine schöne Nachbarin, es Ihnen - nicht als Geschenk, sondern gegen einen Tausch anzutragen." Sie erröthete noch mehr, und ihr Stillschweigen gab mir Muth, weiter zu reden - "Wenn ich," fuhr ich fort, "das Vergnügen haben kann, Ihnen morgen früh" ... O wie dankte ich hier dem ehrlichen Kirchner, der mich so genau von den Festen der alten Tante unterrichtet hatte! - "aufzuwarten ... gewiß, theuerstes Klärchen, ein ähnliches Band, das mir alsdann Ihre Güte erlauben wird dagegen einzutauschen, soll meinem Herzen tausendmal werther seyn, als jenes."
Jetzt erwachte der Stolz der kleinen Heiligen. - "Es ist nicht großmüthig von Ihnen, mein Herr," gurgelte sie mit sanfter Stimme hervor, "daß Sie die Verlegenheit, in die mich dieß Volksgedränge versetzt, noch vermehren. Sie erlauben sich eine Sprache, die mir - um nur wenig zu sagen - ganz fremd ist. Sie müssen wissen, mein Herr, daß ich von meiner Tante abhänge, und keine Besuche anzunehmen habe; und Ihr angebotener Tausch, mein Herr," ...
"Setzt doch gewiß," fiel ich ihr geschwind ins Wort - "keinen Betrug voraus. Wie könnte er wohl - überlegen Sie es selbst, bestes Klärchen - bei einem Heiligthum, so einzig in seiner Art, Statt finden?"
Ich schwieg, als ob ich ihr Zeit zur Ueberlegung lassen wollte - Sie brüstete sich ein wenig - und; "Ihre Auslage" fuhr sie jetzt mit einer Stimme fort, die mir nur zu gut verrieth, wie viel ihr an dem Besitze dieses Bandes gelegen seyn mochte - "würde Ihnen meine Tante gewiß gern ersetzen, wenn Sie geneigt seyn sollten" ...
"Klärchen!" unterbrach ich sie, mit angenommenem Erstaunen - "Mir sagen Sie das? - Doch ich entschuldige Sie - Sie kennen mich noch nicht - aber der Erfolg wird zeigen, wie unrecht Sie thaten, ein Unterpfand des Himmels gegen eine irdische Kleinigkeit, um die Sie ein Freund bittet, auf's Spiel zu setzen. Entweder - meine liebe, bedenkliche Freundin, erlauben Sie mir, daß ich meine gute Absicht ausführe, und Ihnen das Band, daß einst den linken Fuß der hochgelobten Jungfrau umschloß, längstens morgen, an demselben Orte befestige, wo sie es trug; oder ich schwöre, daß, wie ich nach Hause komme, ohne auf die achtzehnhundert Jahre zu achten, die das ehrwürdige Band überlebt hat, ich es dem Feuer meines Kamins übergebe, und Ihnen den Frevel zuschiebe, der dadurch begangen wird." -
O Eduard! wie erschreckte ich nicht das arme Kind durch meinen Schwur, und durch den entschlossenen Ton, mit dem ich ihn ausstieß! Sie erblaßte, schlug die Augen staunend empor, und drückte ihre gefalteten Hände an die Brust - "Nun denn," rief sie endlich in einer kleinen angenehmen Begeisterung - "bin ich, heiligste Mutter, von dir ausersehen, diesen deinen Nachlaß aus dem Feuer zu retten - so folge ich in Demuth - so geschehe dein Wille! - Eine einzige Bitte nur, mein Herr! bewilligen Sie mir nur noch den Aufschub eines Tages! -
"Und warum das, meine Beste?" fragte ich.
(...)

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